Mit Andrea Nahles hat die SPD eine neue Chefin an der Parteispitze. Aber wohin rückt die einstige Vorzeigefrau der SPD-Linken die Partei? Nach einem Linksschwenk klang ihre Rede auf dem Parteitag in Wiesbaden jedenfalls nicht.

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Die neue Parteichefin der SPD heißt Andrea Nahles. 66 Prozent der Delegierten wählten die Rheinländerin am Sonntag auf dem außerordentlichen Parteitag in Wiesbaden in das höchste deutsche Amt der Sozialdemokratie.

Nach fast 155 Jahren steht damit erstmals eine Frau an der Spitze. Damit ist ein Teil des Neuanfangs der SPD gemacht.

"Eine neue Zeit braucht eine neue Politik" lautete auch die Überschrift des Leitantrages im Rhein-Main Kongresszentrum. Ob Andrea Nahles selbst oder der stellvertretende Bundesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel, alle betonten sie: "Wir brauchen nicht nur eine personelle, sondern eine programmatische Erneuerung."

Einig über die Marschrichtung ist man sich also schon mal bis dahin: Es muss nach vorne gehen, um die SPD aus dem Tal zu holen und wieder bei den Wählern zu punkten. Diese antworten nämlich auf die Sonntagsfrage aktuell nur zu 18 Prozent mit SPD.

Linksschwenk mit Nahles?

Wohin aber wird die neue Chefin die SPD führen? Nach links, nach rechts, in die Mitte? Im Interview mit der "Zeit" betonte Nahles schon vor Tagen, es gehe ihr nicht um links oder rechts, sondern: "Die SPD muss wieder grundsätzlicher werden", "Sie muss ihr Profil schärfen" und "Die SPD muss wieder die Partei des Fortschritts werden".

Was aber verrät ihre Rede auf dem Parteitag? Schon die ersten Begriffe, mit denen Nahles ihre Bewerbung um den Parteivorsitz begann, sprechen dabei für sich. "Katholisch, Arbeiterkind, Mädchen, Land."

Vergleicht man das mit dem Titel ihrer Biografie "Frau, gläubig, links: Was mir wichtig ist" aus dem Jahre 2009, fällt auf, was in der Selbstbeschreibung fehlt: Links. Kein Linksschwenk also?

Die 47-Jährige galt einst als Vorzeigefrau der SPD-Linken, präsentierte sich als Generalsekretärin und Ministerin aber vermehrt als moderate Zentristin.

Paradigma der Solidarität

Durch Andrea Nahles’ Rede zog sich vor allem ein Motiv: Solidarität. "Warum haben wir bei der Bundestagswahl nur 20,5 Prozent bekommen?" fragte Nahles und lieferte die Antwort gleich mit: "Wir haben gesagt, was unser Ziel ist, aber nicht, wie wir es erreichen wollen."

Das wolle sie in Zukunft anders machen, denn wenn der Weg im Vagen gelassen werde, könnten die Wähler nicht folgen.

Ihr Ziel: Gerechtigkeit. Der Weg: "Dafür gibt es nur ein Paradigma – das sozialdemokratische Paradigma und das ist Solidarität", kündige Nahles an. An Solidarität fehle es am meisten in dieser "neoliberalen, turbo-digitalen Welt".

In den Anfangszeiten der ältesten Partei Deutschlands war der Kapitalismus der ausgemachte Gegner der Sozialdemokraten. War der erst einmal mit sozialer Marktwirtschaft gezähmt, habe sich die SPD selbst überflüssig gemacht – so beschrieb es schon der Soziologe Ralf Dahrendorf in den 1980er Jahren.

Gegner 2.0: Digitaler Kapitalismus

Das Update des ehemaligen Gegners lautet: "Digitaler Kapitalismus". In ihrer Rede betonte Nahles: "Viele Regeln einer solidarischen Wirtschaftspolitik sind verschwunden oder greifen ins Leere. Unser derzeitiges Wirtschafts- und Finanzsystem produziert auch global erhebliche Ungerechtigkeit. Die Digitalisierung kann diese Ungerechtigkeit noch verschärfen, wenn wir nichts tun."

Gefragt sei daher ein neues solidarisches Wirtschaftskonzept samt Regeln, die verhindern, dass Gewinne in Steueroasen abfließen. Die SPD müsse sagen, wie sie neue Jobs in strukturschwachen Regionen in Zeiten der Energie- und Mobilitätswende schaffen wolle.

Neuer wirtschaftlicher Ordnungsrahmen

Nahles lenkte den Blick auf Unternehmen und Einzelhändler, die mit den großen Internetplattformen konkurrieren: "Während jene in den Städten und Kommunen Abgaben zahlen, ausbilden, Verantwortung übernehmen und den Sportvereinen spenden, können die Plattformen die Gewinne in die nächste Steueroase abziehen. Für die digitale globale Wirtschaft brauchen wir einen neuen Ordnungsrahmen".

Die Digitalisierung führe letztlich auch dazu, dass einmal erworbenes Wissen schnell seinen Wert verlieren könne, den Beruf fürs Leben gebe es nicht mehr. "Jeder muss die Möglichkeit bekommen, in seinem Leben noch mal einen anderen Beruf zu erlernen", forderte Nahles.

Auf Einhaltung der eigenen Regeln pochen

Unter einer solidarischen Wirtschaft verstehe sie, Risiken auf viele Schultern zu verteilen und Sicherheiten zu schaffen. "Alle müssen am Wohlstandsgewinn unserer Volkswirtschaft teilhaben", so Nahles. Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein und gleichzeitig die wirtschaftlichen Interessen des Landes im Blick haben, schließe sich nicht aus.

Gleichzeitig warnte sie vor der Gefahr durch Rechtspopulisten in Deutschland. "Die Rechten suchen nicht die Auseinandersetzung mit den Starken, sie kämpfen gegen die Schwächsten", mahnte Nahles.

Es sei der entschiedene Auftrag der SPD, sich gegen Populisten zu stellen. Dafür müsse der Staat seine Grundwerte verteidigen und auf die Einhaltung seiner eigenen Regeln pochen - "ohne Ausnahme, aber frei von Ressentiments".

Mit Blick auf die internationale Solidarität forderte Nahles eine realistische Betrachtung der Beziehungen. "Wir brauchen eine Politik des Dialogs", sagte sie.

Nahles betonte die Bedeutung der EU und forderte dazu auf, mit Frankreich gemeinsam Führungsverantwortung zu übernehmen. "Wir müssen die UN stärken und eine neue Friedens- und Entspannungspolitik entwickeln", so Nahles.

Linkere Töne von Simone Lange

Gegenkandidatin Simone Lange schlug linkere Töne an, wenn sie von der "Ideologie des Marktradikalismus", "Warteschlangen vor Sozialämtern", "Vater und Mutter Staat als Rabeneltern" und "Frieden durch Abrüstung" sprach.

Ebenso betonte Lange: "Wenn wir über Hartz IV debattieren, ist das keine Vergangenheitsdebatte. Für Millionen von Menschen ist das Alltag." Sie wolle mit der Agenda-Politik aufräumen. "Ob die Anderen das auch wollen, da bin ich mir nicht sicher.“

"Blick auf das Jahr 2020, nicht 2010"

Nahles lieferte keine Abkehr der Agenda 2010. "Wenn wir sagen, wir schaffen Hartz IV ab, oder wickeln die Agenda 2010 ab, haben wir noch keine Frage beantwortet", sagte sie vor mehr als 600 Delegierten.

"Wir brauchen gute Konzepte und konkrete Taten" und "Gedanklich müssen wir beim Sozialstaat keinen Stein auf dem anderen lassen, aber ich bitte euch: Lasst uns die Debatte mit dem Blick auf das Jahr 2020 und nicht mit Blick auf das Jahr 2010 führen."

Auch mit dem Thema "Heimat" bediente Nahles nicht gerade linke Forderungen. "Heimat ist ein sozialdemokratisches Thema" hielt Nahles fest und ergänzte: "Heimat ist ein Ort, an dem man sich zuhause und sicher fühlt. Ein Ort, an dem niemand ausgegrenzt wird und Menschen, die nicht in Deutschland geboren wurden, heimisch werden können."

Dazu brauche es unter anderem bezahlbare Wohnungen, ärztliche Versorgung, eine präsente Polizei und gepflegte Parks.

Linke Volkspartei?

Mit Andrea Nahles als Parteichefin stellt sich auch die Frage zur Zusammenarbeit mit der Linkspartei neu. Ist mit ihr gar eine linke Volkspartei, wie Sahra Wagenknecht sie vorschlug, denkbar? Nicht wenige in der SPD wünschen sich zumindest eine Gesprächsbasis zwischen Linken und SPD.

Der "Zeit" hatte Nahles bereits gesagt: "Wenn wir unser Profil schärfen wollen, dürfen wir nicht nachplappern, was die Linkspartei für links hält." Die SPD brauche Selbstbewusstsein.

Nach ihrer Rede in Wiesbaden scheint das Szenario einer linken Sammlungsbewegung zumindest nicht wahrscheinlicher geworden zu sein.

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