Nur wenige Monate liegen zwischen dem Attentat auf die Jüdische Synagoge in Halle und dem Anschlag in Hanau, wo neun Menschen aufgrund ihrer ausländischen Wurzeln erschossen wurden. Wie groß ist Deutschlands Problem mit Rassismus und Antisemitismus? Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle, gibt Antworten.

Ein Interview

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Im hessischen Hanau hatte am 20. Februar 2020 der 43-jährige Tobias R. neun Menschen mit ausländischen Wurzeln aus rassistischen Gründen getötet, später wurden er und seine 72-jährige Mutter zu Hause tot aufgefunden.

In Halle hatte am 9. Oktober 2019 der Attentäter Stephan B. während der Feierlichkeiten zum jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, bewaffnet in die Synagoge von Halle einzudringen.

Nach dem Scheitern seines Plans erschoss er eine zufällig vorbeikommende Passantin. Anschließend drang er in einen Dönerimbiss in der Nähe ein und erschoss dort einen Mann. Der später festgenommene Tatverdächtige räumte antisemitische und rechtsextremistische Motive ein.

Wie ist es um den Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft bestellt? Woher kommt der Hass? Wir haben bei Max Privorozki nachgefragt, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Halle.

Herr Privorozki, nach etwas mehr als vier Monaten nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle hat in Hanau ein Attentäter zehn Menschen und sich selbst erschossen. Wie haben Sie davon gehört und was haben Sie gedacht?

Max Privorozki: Wie jeder normale Mensch auf einen Terroranschlag reagiert: mit Enttäuschung, Ratlosigkeit, Entsetzen. Ich muss allerdings sagen, dass sowohl vor dem 9. Oktober 2019 als auch nach 20. Februar 2020 und auch zwischen beiden Daten es andere Terroranschläge gab, die entweder zum Tode oder zumindest zur Verletzung geführt haben. Und Fälle wie in Halle oder in Hanau sind leider keine Ausnahmen mehr...

"Anteilnahme nach Halle war überwältigend"

Haben Sie in Ihrer Gemeinde darüber gesprochen?
Wir haben nur ein spezielles Gebet in der Synagoge gesagt.

Sind Sie in Halle zumindest ein wenig zur Ruhe gekommen nach der Hektik nach dem schrecklichen Angriff letzten Oktober?
Unwesentlich: die Presse beziehungsweise die Medien bleiben weiter zu aktiv und geben uns keine Chance zur Ruhe zu kommen.
Wie empfinden Sie die Reaktion der Zivilgesellschaft in Halle auf den Anschlag?

Das habe ich bereits mehrmals betont: Die Betroffenheit und die Anteilnahme waren so überwältigend, dass ich meine allgemein sehr pessimistische Haltung für mich persönlich überdacht habe.

In Halle und in Hanau stand eine rassistische, antisemitische Geisteshaltung hinter den Anschlägen. Hat Deutschland ein Problem mit Rassismus beziehungsweise Rechtsextremismus?
Die Bundesrepublik und das gesamte Europa haben ernste Probleme. Nicht nur mit Rassismus oder Rechtsextremismus. Die Hauptprobleme sind der Hass, die Aggression und absolute Unwilligkeit, sachliche Auseinandersetzungen zu führen: egal zu welchen Themen, ob es Zuwanderung, Klimawandel, Wirtschaft, Gesundheit oder auch Außen- oder Innenpolitik sind. Als Ergebnis dieses Hasses erleben wir Beleidigungen, Vorverurteilungen und in Extremfällen auch Morddrohungen und Morde.

"Die AfD ist das Ergebnis dieses Nichtstuns der regierenden Parteien"

Hat die Politik etwas versäumt in den letzten Jahren oder gar Jahrzehnten?
Auf jeden Fall. Die Probleme, die ich in der vorigen Antwort beschrieben habe, sind Ergebnisse von gravierenden Fehlern oder eher des Nichtstuns der Regierung.
Welche Rolle spielt die AfD bei der Entwicklung?
Die AfD ist das Ergebnis dieses Nichtstuns der regierenden Parteien. Somit würde ich diese Rolle nicht überdramatisieren: Wenn ein Mensch wegen einer Virusinfektion krank ist und hustet, ist die Frage, welche Rolle der Husten spielt, meiner Meinung nach sinnlos.

Was kann die Politik tun, damit künftig solche Anschläge vermieden werden können?

Ich bin kein Politiker und kann diese Frage kaum beantworten. Auf jeden Fall sollte man aufhören, sich zu scheuen und alle Probleme beim Namen nennen.

Letzten November haben Sie in einem Interview gesagt, sie fühlten sich in Deutschland nicht mehr zu Hause und spielten mit dem Gedanken, nach Israel auszuwandern. Hat sich daran etwas geändert?
Sie weisen auf ein Interview hin, in dem ich unvollständig zitiert wurde. Ich habe lediglich Folgendes gesagt:
Erstens: Ich fühle mich in meinem Land und in meiner Stadt nicht wie früher, nicht mehr zu Hause. Dieses Gefühl betrifft nicht nur meine Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben.

Zweitens: Wenn es keine schnelle und gravierende Änderung in der Politik gibt, sehe ich die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland und in Europa gefährdet.

Drittens: Wenn es so weiter geht, schließe ich nicht aus, dass ich auswandere. Dabei geht es explizit nicht um die Tatsache, dass ich jüdisch bin, sondern viel mehr um die Tatsache, dass ich in einer Gesellschaft, wo man nicht sagen kann, was man denkt, nicht leben kann.

Max Privorozki hat unsere per E-Mail übermittelten Fragen schriftlich beantwortet.
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