Der "Tag des Zorns" am 25. Januar 2011 markiert den vorläufigen Höhepunkt des "Arabischen Frühlings" in Ägypten. Drei Jahre nach den Protesten kämpfen die meisten Länder der Region mit wirtschaftlicher Not, Aufständen und einer ungewissen Zukunft. Wir sprachen mit Rachid Ouaissa, Professor für Politik des Nahen und Mittleren Ostens, über den langen Weg zu stabilen Verhältnissen - und die "Christdemokratisierung" des Islam.

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Herr Ouaissa, wie bewerten Sie den "Arabischen Frühling" heute?

Ouaissa: Was da vor drei Jahren in der arabischen Welt passiert ist, war vor allem eine akkumulierte Frustration der Bevölkerung über die gescheiterten Großprojekte, die von den Staaten versprochen wurden, nämlich Entwicklung, Prosperität und so weiter. Die beteiligten Gruppen hatten dabei aber alle äußerst unterschiedliche Ziele. Der einzige gemeinsame Nenner war es, dass das Regime verschwinden sollte - in Ägypten äußerte sich das in dem Ruf "Erhal" - "Hau ab".

Eigentlich war das Ganze eher eine apolitische Bewegung, da sind sich die meisten Experten einig. Es waren keine Revolutionen, wie viele zunächst gedacht hatten, es waren Revolten, die unter Kontrolle kamen oder auch nicht - wie in Libyen oder Syrien. Tunesien war vielleicht die einzige Ausnahme. In vielen Fällen hat es das Regime geschafft, sich unter anderen Konstellationen wiederherzustellen.

Wie schätzen Sie die Lage in den einzelnen Ländern ein?

Ouaissa: In Libyen haben wir ein Chaos, weil das Land von einer kleinen Elite getragen war. Es gibt noch nicht einmal ein Militär, das die Macht an sich reißen könnte. Libyen ist völlig zersplittert und es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Syrien hat das Regime aus meiner Sicht nicht aufgegeben, weil das Land nicht eine Zivilgesellschaft hat wie etwa Tunesien. In Ägypten ist das Militär sehr stark, zudem gibt es eine große, lenkbare Masse von Analphabeten und Menschen in höchster Armut.

Das Militär kann dort mit den vielen ganz unterschiedlichen Kräften jonglieren. Im Jemen gab es einen Pseudo-Übergang, bei dem man am Ende versuchte, sich mit dem alten Regime zu arrangieren. Dasselbe gilt auch für die anderen Länder: Es sind zwar neue Konstellationen entstanden, aber nicht etwas Neues im Sinne von neuen Gesellschaftsprojekten oder -formaten.

Gibt es auch hoffnungsvolle Kandidaten?

Ouaissa: Tunesien ist das einzige Land, für das man momentan ein wenig Hoffnung haben kann. Das ist vor allem das Verdienst der Gewerkschaften, die eine immens wichtige Vermittlerrolle spielen zwischen den verschiedenen Akteuren. Da gibt es zumindest ein wenig Hoffnung, dass weder ein radikaler islamischer Staat entsteht, noch ein sehr gesellschaftsferner laizistischer Staat.

Was ist in Tunesien anders?

Ouaissa: In Tunesien ist die Bevölkerung mit zehn Millionen Menschen relativ klein, trotz des starken autoritären Systems ist dort eine Mittelschicht entstanden, der es relativ gut geht. Nicht zu unterschätzen ist wie gesagt die Rolle der Gewerkschaften, Außerdem sind die Islamisten lernfähiger, sie haben sich nicht überschätzt wie die ägyptischen Muslimbrüder. Sie haben unter anderem die salafistische Bedrohung richtig eingeschätzt. Die Muslimbrüder hatten ihre Verankerung in der Gesellschaft einfach überschätzt.

Warum tun sich die Länder so schwer, demokratische Systeme aufzubauen?

Ouaissa: Aus der Geschichte Europas haben wir gelernt: Demokratie wird nicht verschenkt. Auch die Europäer sind nicht schon immer die Super-Demokraten gewesen, die Gesellschaft musste die Macht erst an sich reißen. Ursprünglich hatte der Kapitalismus dazu geführt, dass bestimmte Gruppen wie etwa die Arbeiter oder die Frauen erstarkt sind und die Gesellschaft ein Druckmittel auf die Machtinhaber bekam. Das fehlt aber in den arabischen Ländern. Dort wird nicht viel produziert. Der Macht der Herrschenden kommt aus dem Export von Öl und Energie. Die Machtinhaber brauchen die Gesellschaft gar nicht - ganz anders, als etwa Frau Merkel oder die großen Konzerne in Europa.

Es gibt Stimmen, die behaupten, dass ein Diktator, der die unzufriedenen Massen im Zaum hält, realpolitisch betrachtet sogar der bessere Weg ist. Sehen Sie das auch so?

Ouaissa: Revolutionen sind per se erst einmal zum Scheitern verurteilt. Selbst die Französische Revolution hat Jahre gedauert. Danach gewinnt immer erst einmal die dunkelste Macht - damals Robespierre mit seinem Terror. Es dauert einfach, bis wieder Ruhe einkehrt. Diese Momente gibt es in der Geschichte immer. Natürlich sehnt man sich in Zeiten der Unruhen nach Stabilität. Es dauert, bis der Realismus zurückkehrt. Die Herausforderung ist es, dass die Mehrheit einen gesellschaftlichen Konsens findet und sich sicher fühlt und eine Perspektive sieht - dann kehrt auch die Stabilität zurück.

Was ist der Weg zu mehr Stabilität?

Ouaissa: Ein friedliches Zusammenleben sehe ich nur durch Industrialisierung und kapitalistische Strukturen. Die Zusammenarbeit mit Europa ist der Schlüssel. Man muss sehen, wie man Arbeitsplätze schafft. Die Gesellschaft kann nicht durch irgendwelchen utopischen Kram zusammengefügt werden, sondern durch Schaffung von Arbeit. Das Kapital ist da, es müsste nur so investiert werden, dass Europa auch Interesse daran hat. Bislang wurde die Ruhe und Loyalität der Bürger in den arabischen Ländern von den Machthabern durch Geld und Geschenke erkauft. Doch die Menschen wollen lieber arbeiten, das ist ein Modell für die Zukunft.

Was kann Europa tun?

Ouaissa: Langfristig müsste Europa in die Richtung "Arbeitsplätze schaffen" denken und weg kommen von diesen Wertedebatten, die ohnehin nichts bringen. Auch Mitleid bringt nichts. Wir brauchen klügere Politiker, die sich für Arbeitsplätze einsetzen. Das ist letztlich auch im Sinne Europas, für das ein starker Partner im Süden sinnvoll wäre: Durch einen stärkeren Süden würde Europa auch gegenüber China und den USA gestärkt. Das ist ein weiteres Grundproblem: Keine gemeinsame europäische Linie.

Viele Europäer haben Angst vor Islamisten und dem Islam allgemein, wie schätzen Sie diese Gefahr ein?

Ouaissa: Kleine Gruppen, die irgendwelche unrealistischen utopischen Träume haben, gibt es immer und überall. Der Islamismus ist meiner Meinung nach genau wie das Christentum zähmbar und domestizierbar. Im Mittelalter wurden in Europa Tickets ins Paradies verkauft und die Leute haben es geglaubt. Ich glaube daran, dass auch der Islam "christdemokratisiert" werden kann, wenn man so will.

Die Radikalen haben nur Zulauf, wenn Chaos herrscht. Wenn kein Staat da ist, bieten sie das Paradies und sozialen Halt. Aber wenn es andere Perspektiven gibt, haben sie keine Chance. Meiner Meinung nach würde sich das Problem dann schnell selbst erledigen.

Sie sehen in der Region also eine Chance, auch realpolitisch?

Ouaissa: Europa käme eine stabile Peripherie doch zugute - wenn etwa VW nicht nach China muss, sondern etwa nach Algerien oder Tunesien kann - das ist viel näher, produktiver und inzwischen auch billiger. In dieser Zusammenarbeit sehe ich große Hoffnung. Ob Computerchips oder Bügeleisen: Das alles könnte in diesen Ländern produziert werden. Das würde vermutlich ausreichen, um Arbeit und damit mehr Stabilität zu erreichen. Solche Projekte gibt es bereits, sie müssten nur verstärkt werden. Die Amerikaner haben die Potenziale erkannt und sind dort schon sehr aktiv.

Rachid Ouaissa wurde 1971 in Algerien geboren. Seit März 2009 leitet er den Lehrstuhl Politik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mitteloststudien an der Philipps-Universität Marburg. Er ist unter anderem Kollegiumsmitglied des Verbunds "Europe in the Middle East-the Middle East in Europe" am Wissenschaftskolleg Berlin und der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (DAVO).
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