Millionen Briten fordern ein zweites Referendum über den EU-Austritt Großbritanniens. Theoretisch wäre es möglich, erneut das Volk zu befragen. Doch es gibt einige Hürden, wie Brexit-Experte Klaus Stolz von der TU Chemnitz erklärt.

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Herr Stolz, gibt es für Großbritannien eine rechtliche Option, ein zweites Referendum abzuhalten?

Klaus Stolz: Rechtlich ist das kein Problem. Das Ergebnis des Brexit-Referendums ist rechtlich nicht bindend. Kein Referendum kann das britische Parlament binden, insofern kann das Parlament beziehungsweise die Regierung rein rechtlich auch jederzeit ein neues Referendum ansetzen. Die politischen Kosten eines solchen Verhaltens stehen jedoch auf einem ganz anderen Blatt.

Was würde ein zweites Referendum für Theresa May bedeuten? Aktuellen Umfragen zufolge liegen die Remain-Befürworter hauchdünn vorn.

May hat ein zweites Referendum über die letzten Jahre hinweg kategorisch abgelehnt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dann noch im Amt wäre, wenn ein solches Referendum abgehalten würde.

Der Ausgang eines solchen zweiten Referendums ist völlig offen und hängt natürlich auch sehr von der konkreten Fragestellung ab. Umfragen zeigen einen knappen Vorsprung für den Verbleib in der EU. Aber das war auch schon kurz vor dem ersten Referendum so.

Sollte jetzt jedoch ein konkreter Brexit-Plan zur Abstimmung gestellt werden, dann hielte ich den Verbleib Großbritanniens in der EU für durchaus wahrscheinlich. Allerdings sind die Dynamiken einer erneuten Referendumskampagne nicht zu kalkulieren.

Für wie wahrscheinlich halten Sie ein neues Referendum?

Für nicht sehr wahrscheinlich. Die überwältigende Mehrheit der Konservativen ist gegen diesen Vorschlag.

Die Probeabstimmungen am Mittwoch im Unterhaus haben gezeigt, dass die Labour-Führung nicht in der Lage ist, ihre Abgeordneten - und selbst Teile der Führungsriege - hinter diesen Vorschlag zu vereinen.

Labour-Abgeordnete aus den Pro-Brexit-Wahlkreisen im Norden des Landes sehen sich in der Pflicht, den Brexit durchzusetzen, und haben natürlich auch Angst vor einer möglichen Nichtnominierung für die nächste Wahl.

Ein zweites Brexit-Referendum hat nur eine Chance, wenn es den Befürwortern gelingt, diesen Plan als letzten und einzigen Ausweg vor einem No-Deal Brexit zu präsentieren, so wie es Theresa May mit ihrem bereits mehrfach gescheiterten Brexit-Abkommen noch immer versucht.

Was spricht gegen ein zweites Referendum? Würde es das Vertrauen der Briten in die Demokratie stärken oder schwächen?

Die Gegner eines zweiten Referendums sehen darin einen Verrat am britischen Volk oder sie befürchten zumindest, dass es als Missachtung des Volkes interpretiert wird.

Und in der Tat würde ein solches Vorgehen den Vertrauensverlust in die politische Klasse in Großbritannien und damit den Vertrauensverlust in die Demokratie in Großbritannien weiter vergrößern.

Dies insbesondere deshalb, weil Populisten wie Nigel Farage oder Boris Johnson sowie weite Teile der britischen Presse diese Position permanent bedienen würden.

Befürworter argumentieren dagegen zu Recht, dass es keineswegs undemokratisch sei, das Volk zweimal zu befragen - insbesondere dann, wenn beim zweiten Mal ein konkreter implementierungsfähiger Plan zur Abstimmung steht und nicht eine vage Idee.

Ich befürchte aber, dass sich in der öffentlichen Auseinandersetzung die erste Position als stärker erweisen würde.

Was lief beim ersten Referendum schief?

So ziemlich alles. Es gibt in Großbritannien kaum grundsätzliche Überlegungen, unter welchen Bedingungen Referenden abgehalten werden können und sollten. Und es gibt keine Verfassung, in der solche Fragen normiert sind.

Das Brexit-Referendum wurde von David Cameron aus rein parteitaktischen Gründen initiiert. Mit einer Auslagerung dieser höchst kontroversen Entscheidung an das britische Wahlvolk wollte er seine eigene Partei zusammenhalten. Er war sich außerdem sicher, dass das Referendum zugunsten der EU ausgehen würde.

Mit beiden Zielen scheint er grandios gescheitert zu sein. Das Ganze war nicht nur sehr kurzfristig gedacht, es war auch äußerst naiv.

Grundsätzlich war ein Referendum, in dem die konkrete Option des EU-Verbleibs inklusive den bekannten Defiziten einer vagen Brexit-Vision gegenübergestellt wurde, von vornherein problematisch. Der Brexit wurde so zu einer Projektionsfläche für unterschiedlichste Forderungen und Hoffnungen. Mit dem bekannten Ergebnis.

Hätte man damals das Referendum als einen zweistufigen Prozess konzipiert, in dem nach der grundsätzlichen Frage auch ein konkreter Plan zur Abstimmung gestellt wird, dann gäbe es jetzt keinerlei Debatte über die Legitimität eines zweiten Referendums.

Wie müsste ein zweites Referendum aufgebaut sein?
Es stehen mehrere Ideen im Raum: Das Volk nur über Mays Deal abstimmen zu lassen, noch einmal komplett über den EU-Austritt abstimmen zu lassen, mehrere Optionen zur Wahl zu stellen oder auch ein zweistufige Referendum abzuhalten.

Trotz aller demokratietheoretischer Argumente für ein Präferenzwahlverfahren, in dem die Bürger unterschiedliche Präferenzen für eine Reihe von Alternativen zum Ausdruck bringen können, kann ich mir für Großbritannien nur eine klassische Zwei-Optionen Abstimmung vorstellen.

Dabei müsste aus meiner Sicht ein mit der EU abgestimmter Brexit-Deal dem EU-Verbleib gegenüberstehen. Wenn Mays Deal am Freitag erneut durchfällt - und damit rechne ich - dann müsste ein solches Modell neu ausgehandelt werden. Dafür braucht es aber Zeit und neues Personal.

Wie würde es in dem Fall weitergehen? Der von der EU gesetzte Zeitrahmen, in dem die britische Seite eine Entscheidung treffen muss, ist ja extrem eng.

In der Tat, die Zeit wird knapp und damit wird ein No-Deal-Szenario immer wahrscheinlicher.

Für einen längeren Aufschub bräuchte es viel Wohlwollen bei der EU, aber ich denke, wenn man sich auf ein zweites Referendum nach dem oben skizzierten Modell verständigen würde, dann gäbe es dafür die Zustimmung der EU und einen entsprechend längeren Aufschub bis Ende des Jahres 2019 oder sogar darüber hinaus.

Dies hätte jedoch den Preis, dass Großbritannien an den Europawahlen im Mai teilnehmen müsste. Die Wahlkampagne dafür würde ohne Zweifel zutiefst populistische Züge tragen.

Über den Experten: Prof. Dr. Klaus Stolz lehrt am Institut für Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien der Technischen Universität Chemnitz. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören die Autonomiebestrebungen in Europa.
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