Mit Theresa May möchte derzeit wohl kaum jemand tauschen. Nachdem ihr Brexit-Deal bei der Abstimmung im Unterhaus noch deutlicher als erwartet durchgefallen ist, steckt die britische Premierministerin tiefer denn je im Schlamassel. Warum sie daran nicht unschuldig ist und welche Auswege bleiben.

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Viele hätten wohl längst hingeworfen. Andere würden es spätestens jetzt tun. Mit 432 zu 202 Stimmen hat das britische Unterhaus den von Theresa May ausgehandelten Brexit-Vertrag mit der Europäischen Union am Dienstagabend abgewatscht.

Der Vertrag sei "Tot wie ein Dodo" - ein ausgestorbener Vogel - hat die "Sun" am Mittwoch getitelt. Den EU-Austritt Großbritanniens nach den Vorstellungen der britischen Premierministerin wird es wohl nicht geben.

Man möchte fast Mitleid haben mit Theresa May, denn ihre Rolle war von Anfang an undankbar. "Das Referendum war das Ergebnis einer Entscheidung zwischen einer klar definierten Position, nämlich der EU-Mitgliedschaft mit den bekannten Regeln, und einer völligen Leerstelle: Brexit. Diese Option diente als Projektionsfläche für alle möglichen Visionen. Es war also klar, dass es grundsätzlich schwierig werden würde, den Brexit zu implementieren", sagt Brexit-Experte Klaus Stolz von der Technischen Universität Chemnitz im Gespräch mit der Redaktion.

Ignoranz gegenüber dem Parlament

Dass die Situation jetzt gar so verfahren ist, hat sich May aus Stolz' Sicht aber auch selbst zuzuschreiben. "Sie hat schwerwiegende Fehler gemacht", sagt er. Anstatt frühzeitig auszuloten, welche Form des EU-Austritts mehrheitsfähig sein könnte, habe May sich lange auf ihre Formel "Brexit means Brexit" zurückgezogen. "Was genau das bedeutet, wurde nie diskutiert."

Selbst als 2017 das Unterhaus neu gewählt wurde, ließ Mays Konservative Partei die Wähler im unklaren. Das war ungeschickt, ist Stolz überzeugt. "Das wäre die Möglichkeit gewesen, sich ein Mandat für ein konkretes Brexit-Modell geben zu lassen."

Stattdessen habe May für sich in Anspruch genommen, dass der Brexit so zu kommen hat, wie sie ihn mit der EU aushandelt. "Es brauchte erst ein Gerichtsverfahren um festzustellen, dass das Parlament über Artikel 50 zu entscheiden hat, nicht nur die Regierung. Auch die Abstimmung vom Dienstag musste sich das Parlament erst erstreiten." Das räche sich jetzt. "Plötzlich stellt May fest: Oh, ich habe gar keine Mehrheit."

Längst geht der Riss nicht mehr nur zwischen den Gegnern und den Befürwortern des EU-Austritts hindurch. Viele Brexit-Hardliner haben ebenso gegen den Vertrag gestimmt wie die europafreundlichen Parlamentarier. "Es gibt eine große Mehrheit gegen jede Art von konstruktiver Lösung", formuliert es Großbritannien-Kennerin Diana Panke von der Universität Freiburg.

Misstrauensvotum ist reine Symbolpolitik

Wie also könnte es weitergehen? Mit Neuwahlen ist erst einmal nicht zu rechnen. Zwar muss sich Theresa May am Mittwochabend einem Misstrauensvotum stellen. Die meisten Beobachter, auch Panke, gehen jedoch davon aus, dass die Premierministerin dieses überstehen wird. "Das ist reine Symbolpolitik, politisches Kalkül", sagt sie. "Die Labour Party will nochmal deutlich machen, dass die Regierung May aus ihrer Sicht versagt hat, weil sie in Brüssel kein Ergebnis erzielt hat, das im Parlament eine Mehrheit findet."

Eine nochmalige Abstimmung im Unterhaus kommt Panke zufolge nur dann infrage, wenn sich am Austrittsvertrag etwas ändert. "Alles andere wäre undemokratisch." Sie kann sich vorstellen, dass die britische Regierung und der Europäische Rat Interpretationsklauseln ausarbeiten, die das bestehende Papier präzisieren und so Befürchtungen der Gegner ausräumen. Panke räumt jedoch selbst ein: "Ob es auf diesem Weg gelingen kann, sowohl die Remain-Fraktion als auch die Hardliner zufriedenzustellen, ist fraglich."

Klaus Stolz kann sich vorstellen, dass die EU entgegen ihrer bisherigen Aussagen zu Nachverhandlungen bereit wäre, sofern Großbritannien Möglichkeiten für eine substanziell andere Einigung eröffnet.

"Dazu müsste May allerdings von ihren sogenannten roten Linien abrücken und einen sehr viel softeren Brexit vorschlagen", sagt er. Ob May von Forderungen wie dem Austritt aus der Zollunion oder die Kontrolle über die Grenzen abrücken wird?

Viel diskutiert wird auch die Möglichkeit, ein zweites Mal die Bürger nach ihrem Willen zu fragen. So unkompliziert, wie es klingt, sei jedoch auch ein Referendum nicht, warnt Stolz. Es beginne mit der Frage nach der Frage. "Man wird sicher nicht noch einmal fragen: 'Wollt ihr in der EU bleiben oder nicht?' Auch der Brexit müsste eine konkrete Option sein", sagt er. Nur: welche? "Diesen Deal, der im Parlament so gnadenlos durchgefallen ist, braucht man der Bevölkerung erst gar nicht zur Abstimmung vorzulegen."

Harter Brexit "rückt mit jedem Tag näher"

Darüber hinaus gibt der Experte zu bedenken, dass es neben dem Verbleib in der EU und dem bestehenden Deal ja noch die Option des harten Brexits gibt. Bei einem Referendum mit drei Antwortmöglichkeiten würde seiner Einschätzung nach aber wohl erst recht keine klare Mehrheit zustande kommen.

Der harte Brexit, also der Austritt ohne jeglichen Vertrag, ist weder im Interesse der Europäischen Union noch im Interesse Großbritanniens. Beide Seiten würden verlieren. Lange schien diese Möglichkeit deshalb nicht wirklich eine zu sein. Inzwischen aber lässt sich das Schreckensszenario nicht mehr als unrealistisch abtun. "Mit jedem Tag, der vergeht, rückt diese Option näher", sagt Panke.

Ihr Kollege Stolz glaubt: "Wenn, wird es den harten Brexit erst nach einer Fristverlängerung geben." Nach derzeitigem Stand tritt Großbritannien am 29. März aus der EU aus. Es blieben als gerade mal zehn Wochen. Die Staatengemeinschaft hat jedoch in Aussicht gestellt, dem Land Aufschub zu gewähren.

Dass Großbritannien auf dieses Angebot zurückkommen wird, scheint wahrscheinlich. Mehr Zeit dürfte in jedem Fall hilfreich sein, ob für Neuwahlen, ein Referendum oder Nachverhandlungen - und erst recht für einen harten Brexit.

Während nämlich der Deal die wichtigsten Modalitäten des Austritts regelt und für andere Übergangsfristen vorsieht, droht Großbritannien ohne Vertrag das Chaos. "Wie kommt Großbritannien weiterhin an Importgüter, ohne, dass die Preise in die Höhe schnellen? Wie kann man den Export trotz Zöllen konkurrenzfähig gestalten? Wie geht es für EU-Bürger in Großbritannien und für Briten in anderen EU-Staaten weiter?" zählt Panke drängende Fragen auf. Ein späterer Austrittstermin, sagt sie, würde Großbritannien zumindest die Möglichkeit geben, "den Schock etwas abzumildern".

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Klaus Stolz vom Institut für Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien der TU Chemnitz. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören die Autonomiebestrebungen in Europa.
  • Gespräch mit Prof. Diana Panke von der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Die Politikwissenschaftlerin ist Inhaberin der Professur „Governance in Mehrebenensystemen“ und beschäftigt sich im Rahmen ihrer Arbeit mit dem Brexit.
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