Die Bürgermeisterwahl in Istanbul wurde annulliert. Welche Rolle spielt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei der Entscheidung? Was bedeutet das für die Demokratie in der Türkei? Der Grüne Cem Özdemir und die EVP-Abgeordnete Dr. Renate Sommer finden deutliche Worte.
Wer weiß, vielleicht wäre alles anders verlaufen, ginge es nicht um Istanbul. Die Metropole am Bosporus - Zentrum für Kultur, Finanzen, Handel und Medien - ist das Aushängeschild der Türkei, sowohl nach außen für die Welt als auch für den Rest des 80-Millionen-Einwohner-Staates.
Gleichzeitig ist die Stadt auf zwei Kontinenten auch Ausgangspunkt der politischen Karriere von Recep Tayyip Erdogan. Der heutige türkische Staatspräsident war von 1994 bis 1998 Oberbürgermeister Istanbuls.
Bürgermeister wird am 23. Juni neu gewählt
Und darum ist ihm auch so besonders wichtig, dass die Metropole in Hand der Regierungspartei AKP bleibt. Glauben zumindest
Der Politiker der größten Oppositionspartei CHP, Ekrem Imamoglu, hatte die Kommunalwahl in Istanbul am 31. März knapp vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim gewonnen. Erdogans AKP legte Beschwerde wegen angeblicher "Regelwidrigkeiten" ein.
Die Wahlbehörde erkannte Imamoglus Sieg trotz zahlreicher Einsprüche der AKP im April an und erklärte ihn zum Bürgermeister. Allerdings wird ihm das Mandat nun wieder aberkannt und die Wahl annulliert. Neu abgestimmt werden soll am 23. Juni.
"Erdogan hat die Demokratie endgültig beerdigt"
Für Cem Özdemir ein klarer Fall einer persönlichen Agenda des streitbaren Staatspräsidenten. "Erdogans Aufstieg und Fall ist ohne Istanbul nicht denkbar. Istanbul hat Erdogan groß gemacht, und Istanbul hat ihm nun den schlimmsten Tiefschlag seiner Politkarriere verpasst", analysiert Özdemir auf Anfrage unserer Redaktion.
"Dieser Stachel sitzt so tief, dass Erdogan nicht einmal davor zurückschreckt, der Türkei nun auch noch den letzten Anschein einer Demokratie zu nehmen - er annulliert eine Wahl, deren Ergebnis ihm nicht passt. Damit hat er die Demokratie in der Türkei endgültig beerdigt."
Erdogan: Versprechen an Ex-Ministerpräsident Yildirim
Dr. Renate Sommer bezeichnet die Wahlniederlage der AKP in Istanbul als "Frage der persönlichen Ehre" für Erdogan. Im Gespräch mit unserer Redaktion nennt die CDU-Politikerin noch ein weiteres Motiv Erdogans, die Wahl anfechten und wiederholen zu lassen: "Er muss seinen getreuen Vasallen Binali Yildirim unterbringen, der sonst keine politische Perspektive mehr hat."
Dr. Sommer ist sich "sicher, dass Erdogan ihm versprochen hat, dass er Bürgermeister von Istanbul wird, da Yildirim freiwillig zugestimmt hat, die Position des Ministerpräsidenten, also sein eigenes Amt, mit der neuen Verfassung abzuschaffen". Da setze sich Erdogan auch mal über demokratische Wahlen hinweg.
"Es ist klar, dass er das in Auftrag gegeben hat, das war sein persönlicher Wunsch. Es gibt keine Gewaltenteilung mehr in der Türkei, Erdogan regiert alles – und damit auch die Wahlkommission", so die Türkei-Expertin.
"Jetzt wird so lange gewählt, bis das Ergebnis passt"
In der Beurteilung, wie die erneute Abstimmung ausgehen wird, sind sich die Politiker nicht einig. Für Özdemir hat Erdogan seine demokratische Maske fallen gelassen und bleibt zurück als "zutiefst verunsicherter Herrscher, der um seine Macht bangen muss".
Daher könne er die Wahl am 23. Juni nur gewinnen, wenn er die Geschlossenheit der Opposition aufbreche: "Dazu greift Erdogan tief in die Trickkiste und wirbt plump um kurdische Stimmen: Erstmals nach sieben Jahren ließ er Abdullah Öcalans Anwälte zum PKK-Chef durch." Der Kurdenführer sitzt lebenslang in Haft, die letzten Jahre verbrachte er in völliger Isolationshaft.
Dr. Sommer hingegen glaubt nicht an eine faire Abstimmung, sondern an Wahlfälschung: "Jetzt wird so lange gewählt, bis das Ergebnis passt. Und ich schwöre Ihnen in die Hand: Das Ergebnis wird passen. Der AKP-Mann Yildirim wird Bürgermeister von Istanbul, egal, wie die Leute abstimmen."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Dr. Renate Sommer, Mitglied des Europäischen Parlaments und dort Ständige Türkei-Berichterstatterin der EVP-Fraktion
- Statement per E-Mail von Cem Özdemir Bundestagsabgeordneter der Grünen
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