Der Rechtsextremismus-Experte Dierk Borstel warnt, dass Ängste der Bevölkerung ernst genommen werden müssen, sonst könne es auch an anderen Orten zu Ausschreitungen wie in Chemnitz kommen. Die Krawalle seien ganz und gar nicht plötzlich entstanden. Unabhängig davon sei ihm zufolge "die Kernfrage, wie wir mit der Geflüchteten-Frage umgehen".

Ein Interview

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Die Bundesregierung hat die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz verurteilt. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Dierk Borstel: "Es haben viele davor gewarnt. Die Situation spitzt sich schon lange zu. Da fehlt nur ein lokaler Anlass, der wie ein Funkenflug ist und das brennbare Material entzündet.

Genauso ist es ja gewesen: Es gab einen schwelenden Konflikt und der Anlass war der Todesfall auf dem Fest. In diesem Moment ist die Stimmung gekippt."

Könnten sich ähnliche Ausschreitungen also auch an anderen Orten wiederholen?

"Es gibt viele Menschen, die sich Ähnliches für ihren jeweiligen Ort wünschen. Aus den 90er Jahren wissen wir, welche Dynamik sich entwickelt, wenn so eine Demonstration loszieht: Das hat etwas sehr Emotionales, Gerüchte und Stimmung machen sich breit.

Es wird skandiert, die erste Flasche fliegt, dann die erste Faust. So Mancher wird dann etwas rufen oder tun, was er sich eine Stunde vorher gar nicht hätte vorstellen können. Gewalt ist für viele sehr nahe liegend. Also gibt es gerade überhaupt keinen Grund zur Beruhigung."

Was treibt diese Menschen an?

"Die sind von einer starken Angst getrieben, die man in dem Sinne ernst nehmen muss, wie man auch ein Kind ernst nehmen muss, das sich vor Geistern fürchtet. Da bringt es nichts zu sagen: 'Du brauchst keine Angst zu haben.' Denn wenn die Angst da ist, muss man über Kommunikation damit umgehen.

Man darf die Ängste weder ignorieren noch schüren. Es hilft aber auch nichts, bei jeder Angst zu sagen, dass sie berechtigt sei. Denn viele sind unberechtigt."

Bei den Ausschreitungen waren Menschen zu sehen, die klar als rechtsextrem erkennbar waren und andere, denen auf den ersten Blick keine politisch rechte Gesinnung anzusehen war. Wie kommt es, dass die bei so etwas mitmachen?

"Ein Teil der Menschen, die mitgemacht haben, war schon immer rechtsextrem und teils auch gewaltaffin. Dazu gehören auch Nazi-Hooligans, Menschen aus Kameradschaften oder aus dem früheren NPD-Umfeld. Dazu kommen jetzt Leute, die bisher eine Distanz zu dem Milieu hatten.

Sie waren vorher vielleicht auch völkisch, rassistisch, antisemitisch oder haben sich ein anderes Deutschland vorgestellt. Sie wollten aber ganz bestimmt nicht rechtsextrem sein, sondern haben sich als besorgte Bürger gesehen.

Diese Distanz hat sich jetzt aufgehoben. Diese Gruppen eint die Haltung in der Geflüchteten-Frage. Sie sagen: 'Die Fremden wollen wir hier nicht, die bringen uns Kriminalität und unsere Ordnung durcheinander.'"

Reicht dies Übereinstimmung aus?

"Sie eint auch eine Distanz zum herrschenden politischen System. Beim Spruch 'Merkel muss weg' geht es nicht um die Bundeskanzlerin alleine. Die Menschen fühlen sich nicht mehr integriert. Dabei geht es vielen persönlich nicht schlecht, sondern eher gut. Das ist nicht das abgehängte Prekariat, die Hartz-IVler.

Diese Menschen haben Angst, etwas zu verlieren: Ihr Geld, ihre Stadt, ihre Gewohnheit oder ihre Sicherheit. Früher waren sie vor allem in den großen Volksparteien integriert, doch mittlerweile sind sie desintegriert und docken bei den Rechtsextremen an. Und dann wird es gefährlich, weil wir genau zu solchen Bewegungsformatierungen kommen.

Wo bisher 30 übersichtliche Neonazigruppen waren, gibt es jetzt das Gefühl, dass ein größerer Teil der Bevölkerung hinter ihnen steht. Es ist ganz schwierig, das wieder aufzufangen."

Greift dieser Fremdenhass gerade auf einen größeren Teil der Bevölkerung über?

"Der Anteil der Bevölkerung, der rassistisch, antisemitisch oder klassisch fremdenfeindlich ist, ist seit Jahrzehnten relativ stabil. In Krisenzeiten gibt es kleine Schwankungen. Neu ist, dass er politisch sichtbarer geworden ist: Jemand, der früher rassistisch oder antisemitisch war, hatte nur die NPD als Wahlangebot. Das war vielen aber zu ekelig.

Heute können Menschen mit einer solchen Einstellung die AfD wählen und trotzdem gesellschaftlich Karriere machen. Sie können jetzt auf der Straße für diese Werte demonstrieren, ohne dass sie sich in eine hardcore Nazi-Ecke gedrückt fühlen und das ist neu."

Welche Folgen haben die Ausschreitungen auf den Rest der Bevölkerung? Werden rechtsradikale Ansichten und Taten zunehmend akzeptierter?

"Die Wirkung ist immer ambivalent: Einen Teil ekelt sowas eher an. Ein Gutbürgerlicher, der etwas gegen Flüchtlinge hat, will nicht mit Nazis, mit Hooligans und Straßenschlachten in Verbindung gebracht werden. Der hat auch Sorge um seinen Kleingarten und sein Auto am Rand.

Aber es gibt auch einen kleinen Teil, der sich davon eher motiviert fühlt. Die entscheidende Kernfrage ist, wie wir weiter mit der Geflüchteten-Frage umgehen.

Wir haben eine Konfliktlinie in der Gesellschaft: Das haben wir in Dortmund mal untersucht. Dort stand etwa die Hälfte der Befragten Geflüchteten offen gegenüber, viele sahen auch Konflikte. Die andere Hälfte sagte aber geschlossen: 'Nein. Das wollen wir nicht.'

Solche Konfliktlinien lieben Rechtsextreme, weil sie eine eindeutige Trennung in Gut und Böse ermöglichen. Vor diesem Hintergrund verbreiten sie ihre rassistische Interpretation der Lage als Lösungsmöglichkeit: 'Ausländer raus, starker Nationalstaat und ein Ende der EU.'"

Wie kann eine weitere Aufspaltung der Gesellschaft in diese Lager verhindert werden?

"Wir brauchen moderierende Kräfte zwischen den Gruppen. Klassischerweise muss das eine Verbindung aus staatlichen Stellen, also Politik und Verwaltung, und der Zivilgesellschaft sowie Wirtschaft sein. Meinungsstarke Personen etwa, die vor Ort verankert sind.

Wir brauchen eine Kultur, die es ermöglicht, über die Probleme, die wir vor Ort ja wirklich haben, frei, vernünftig und sachlich zu reden. Uns hilft weder das faschistische Brennholz auf der einen Seite, noch die Angst, dass es nur der AfD nützt, wenn Probleme angesprochen werden. Es ist eben weder alles Böse, noch alles gut."

Dierk Borstel ist Rechtsextremismus-Experte und Professor für praxisorientierte Politikwissenschaft an der Fachhochschule Dortmund.
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