Es hat sich nicht genug getan bei der Digitalisierung des Staates. Die Parteien versprechen im Wahlkampf: Bürokratie abbauen, Prozesse verschlanken und vor allem digitalisieren. Dabei wird oft nach Estland geschaut – als Vorbild für E-Government. Was steckt dahinter?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Laura Czypull sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Estland hat etwas, von dem Deutschland noch immer träumt. Nein, es ist nicht das Internet aber fast: eine zu fast 100 Prozent digitale Verwaltung des Staates. Ein Haustier anmelden, ein Haus kaufen, wählen: All das passiert in Estland online. Selbst einen Eheantrag können die Estinnen und Esten digital stellen. Lediglich für die abschließende Unterschrift müssen sie noch formal aufs Amt. Bei der Scheidung ist es ähnlich.

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Kurzum: Wer in Estland mit Behörden zu tun hat, muss dafür schon seit Jahren nicht mehr aufs Amt. Doch wie hat Estland das geschafft?

Ende der Sowjetherrschaft: Estland musste sich neu erfinden

700 Jahre lang stand der baltische Staat unter Fremdherrschaft – bis 1918. Doch diese erste Unabhängigkeit dauerte nur bis 1940. Dann wurde Estland zunächst von der Sowjetunion, dann von NS-Deutschland und wieder von der Sowjetunion besetzt. Seit 1991 ist Estland wieder unabhängig. Mit Folgen: Das Land stand vor einem Neuanfang. Einmal "tabula rasa", alles neu. Schlank, kostengünstig und digital war damals die Devise.

Estlands Hauptstadt Tallinn
Auf den ersten Blick sieht Estlands Hauptstadt Tallinn aus wie viele andere europäische Städte: Kirche, historische Altstadt – nicht sehr futuristisch. © IMAGO/Rupert Oberhäuser

Der neue Staat hatte keinen Verwaltungsapparat, der auf westlichen demokratischen oder marktwirtschaftlichen Prinzipien basierte. Die gesamte politische und wirtschaftliche Struktur musste im Prinzip neu gedacht werden. Eine einzigartige Chance, aber auch eine Herausforderung – die Estland offensichtlich mit Bravour meisterte. Bis heute wird das Land als digitales Musterbeispiel angeführt. Auch als Vorbild für Deutschland.

Digitaler Staat Deutschland: Wie realistisch ist das?

Denn bislang ist hierzulande zu wenig passiert. Das Online-Zugangsgesetz (OZG) sollte 2017 ein erster Vorstoß in die Richtung sein. Rund sieben Jahre dauerte es dann, bis die Vorgabe von 115 priorisierten Verwaltungsdienstleistungen erreicht war, die nun digital möglich sein sollen. Darunter etwa die Beantragung des Kindergeldes. Ende 2022 waren es erst 33. 2024 trat ein Update des Gesetzes in Kraft das OZG 2.0.

Das meiste ist in Deutschland dennoch nicht online möglich. Digitalisierungsexperte Florian Marcus sagte der "Tagesschau": "Der Staat hat zu viel Geld, als dass es ihm schaden würde, als dass er merken würde, wie ineffizient und ineffektiv die deutsche Bürokratie ist."

Das ist auch den meisten Parteien klar. Viele haben sich im Wahlkampf den Bürokratieabbau und die Digitalisierung des Staates auf die Fahnen geschrieben. Auf Anfrage unserer Redaktion erklärt die Bundestagsabgeordnete Misbah Khan (Grüne), Mitglied im Digitalausschuss: "Länder wie Estland zeigen, wie effektiv zentralisierte Stellen und Systeme wie X-Road sein können, während wir in Deutschland mit zig Zuständigkeiten und veralteten Registern kämpfen."

Misbah Khan (Grüne) im Bundestag
Misbah Khan (Grüne) gehört dem Digitalausschuss im Bundestag an. © IMAGO/Political-Moments

X-Road ist das digitale Verwaltungssystem der estnischen Regierung. "Es verbindet die Systeme und Datenbanken verschiedener Behörden miteinander", sagt Arne Ansper auf Anfrage unserer Redaktion. Ansper ist Software-Entwickler in Estland und leitet die Technologieabteilung bei Cybernetica. Es zählt zu den wichtigsten Digitalunternehmen des Landes. Ansper war noch Student am Institut für Kybernetik in Tallinn, als Estland unabhängig wurde. Damals begannen er und viele andere Studierende seiner Uni für die Regierung Software zu programmieren.

"Es war unser Staat, den wir zurückgewonnen hatten, und jeder versuchte zu helfen, um Dinge besser zu machen", erinnert sich Ansper. 2001 beauftragte die Regierung seine Firma, die aus dem Institut hervorgegangen war, damit, das neue System X-Road auf Sicherheitslücken zu prüfen.

Das Problem mit dem Datenschutz – oder doch nicht?

Das System bildet das digitale Rückgrat Estlands. Der elektronische Identitätsnachweis (eID) spielt dabei eine zentrale Rolle – zudem können Behörden nur auf die Informationen zugreifen, die für sie bestimmt sind. Verstöße werden hart geahndet.

Jede Bürgerin und jeder Bürger hat einen personalisierten Code für alle Behörden-Angelegenheiten, also eine Art Personalausweis für den Online-Verkehr. Trotzdem wurde X-Road nach öffentlichen Informationen noch nie gehackt, Datenschutzbedenken gibt es daher wenige. "Das System wurde von Anfang an so entwickelt, dass es sicher ist", sagt Ansper. Die Bevölkerung vertraut dem Staat bei der Informationssicherheit.

Estland gilt als eines der besten Länder der Welt in Sachen Cybersecurity. Wenngleich Ansper erzählt, dass seine Regierung sich die Methodik der deutschen Cyber-Sicherheitsbehörde (BSI) Anfang der 2000er Jahre abgeschaut hat. Deutschland könnte also auch digitaler sein. Aus Anspers Sicht müsste es dafür allerdings dringend sein Identitätskonzept überdenken – ohne dies gehe es nicht.

Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung schreibt in einer Studie aus 2021, dass das Vertrauen der Estinnen und Esten in ihren Staat deshalb so hoch sei, weil sie selbst die volle Kontrolle über ihre Daten haben und etwas sehr Wertvolles vom Staat bekommen: effiziente Dienstleistungen. So ist die Steuererklärung zum Beispiel innerhalb weniger Wochen mitsamt Rückzahlung abgeschlossen.

Auch die Studienautoren kommen dabei zu dem Ergebnis, dass es dringend eine grundsätzliche Änderung bräuchte: Dafür müsste dringend eine elektronische Identität her, außerdem ein einheitliches Bürgerkonto und entsprechende Dateninfrastruktur. In Teilen gibt es das schon, wird allerdings bislang nur gering genutzt.

Digitalpolitikerin Misbah Khan sagt dazu: "Der europäische Datenschutz, dem Deutschland und Estland gleichermaßen unterliegen, ist dabei kein Hemmnis, sondern ein notwendiger Bestandteil moderner IT-Sicherheit."

Ein Sprecher des "Chaos Computer Club" sagt unserer Redaktion gegenüber: "Deutschland ist in meinen Augen alles andere als eine Datenschutzhochburg." Datenschutz und damit verbunden die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) würden nur immer gern als Schutzargument hervorgekramt. Er sagt: "Was auch immer die Digitalisierung in diesem Land behindern mag – der Datenschutz ist es bestimmt nicht."

Volker Wissing (parteilos) mit Mixed-Reality-Brille
Mit der Bilanz von Volker Wissing (parteilos) als Digitalminister sind viele unzufrieden. © picture alliance/dpa/Jens Kalaene

Digitalisierung des Staates: Digitalministerium soll's richten

Die demokratischen Parteien sind sich hier einig: Es muss dringend etwas passieren. So unterzogen sich Parteivertreter von FDP, SPD, Grünen und Union in Berlin dem "Netzpolitischen Parteiencheck" des Verbands Internetwirtschaft. Was schnell deutlich wurde: So weit auseinander liegen einige Kernforderungen nicht. Alle wollen beispielsweise ein eigenständiges Digitalministerium mit einem eigenen Digitalbudget – die Zuständigkeiten müssten gebündelt werden, so der Tenor.

Digitalpolitiker Reinhard Brandl, der für die CSU teilgenommen hat, sagte unserer Redaktion im Vorfeld: "Für eine erfolgreiche Verwaltungsdigitalisierung brauchen wir vor allem einen funktionierenden digitalen Datenaustausch zwischen den Behörden und innerhalb der Behörden." Sie sei nicht damit erreicht, dass die Bürger zwar Anträge online bei Behörden einreichen könnten, dieser Online-Antrag aber innerhalb der Behörde ausgedruckt und analog bearbeitet werde.

Fest steht: Ein "echtes" Digitalministerium hätte eine Mammutaufgabe vor sich.

Verwendete Quellen