Antisemitische Parolen auf Kundgebungen, Molotow-Cocktails auf eine Synagoge, Davidstern-Markierungen an Hauswänden: Seit dem Hamas-Angriff auf Israel und dem Krieg in Gaza befindet sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland im Ausnahmezustand. Immer wieder wurde in der Vergangenheit der Nahostkonflikt auf deutschen Straßen ausgetragen – doch dieses Mal ist die Situation für Jüdinnen und Juden besonders bedrohlich.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joshua Schultheis sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Am Freitag blieben viele jüdische Kinder in Deutschland zu Hause. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie an diesem Tag in Kita oder Schule gehen – aus Angst, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Zuvor hatte die Hamas einen weltweiten "Tag des Zorns" gegen Israel ausgerufen, der auch deutsche Behörden dazu veranlasste, die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen zu erhöhen. Nicht zum ersten Mal wirkt sich der Nahostkonflikt auf Deutschlands Jüdinnen und Juden aus. Doch dieses Mal, erzählen viele, ist es anders: Jüdisches Leben hierzulande sei lange nicht mehr so bedroht gewesen.

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Wir erreichen Elio Adler am Telefon. "Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erlebt die Tage seit dem Hamas-Angriff auf Israel als die dramatischste Zeit seit 1945", sagt er noch, will dann aber unterbrechen. Er sei gerade im Taxi, könne nicht frei über das Thema sprechen. Adler ist Vorstandsvorsitzender der NGO "WerteInitiative", die sich für die Interessen der jüdischen Gemeinschaft und Israels einsetzt. Er schreibt Meinungsartikel in Zeitungen, tritt im Fernsehen auf. Niemand, der so leicht davor zurückschreckt, in der Öffentlichkeit über den Nahostkonflikt zu reden.

Zehn Minuten später ist er an seinem Ziel angekommen und ruft erneut an. "Wir Juden in Deutschland sind gerade in einer zweifach schrecklichen Situation", sagt er. "Zum einen ist Israel für uns nicht mehr die Lebensversicherung, als die wir sie immer wahrgenommen haben." Dass am 7. Oktober Hunderte Hamas-Terroristen die Grenze von Gaza zu Israel einfach überwinden und etwa 1.500 Menschen töten sowie 200 weitere entführen konnten, sei nicht nur ein Schock für Israel gewesen, sondern für alle Juden weltweit.

Betroffener: Erlebe "massive Welle antisemitischen Hasses"

"Zeitgleich erlebe ich in meinem Zuhause, in Deutschland, eine massive Welle antisemitischen Hasses", so Adler. Eine Kombination, die für ihn "existenziell erschütternd" sei. "Nicht wenige Jüdinnen und Juden in Deutschland holen gerade gedanklich die Atlanten und Globen raus", berichtet Adler. Sie hielten Ausschau nach einem sicheren Ort, an den man im Notfall fliehen könne. Bisher war dieser Ort für viele Juden Israel.

Immer wieder wird der Nahostkonflikt auch auf deutschen Straßen ausgetragen. Die Chronologie der Ereignisse ähnelt sich meistens: Die radikal-islamische Hamas, die den Gazastreifen seit 2006 kontrolliert, schießt Raketen auf Israel. Die IDF, die israelische Streitkraft, reagiert mit Luftschlägen auf Gaza, woraufhin in es in vielen deutschen Großstädten zu pro-palästinensischen Protesten kommt. Insbesondere 2014 und 2021 gab es dabei zahlreiche antisemitische Vorfälle, wurden jüdische Einrichtungen Ziel von Angriffen.

Seit fast zwei Wochen herrscht wieder Krieg in Gaza. Doch das Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung stellte eine neue Qualität der Gewalt dar. Israels Armee schlägt nun wiederum mit besonderer Härte zurück. Bei Luftangriffen der IDF sollen nach palästinensischen Angaben bis Mittwochmittag etwa 3500 Menschen gestorben sein. Unabhängig lassen sich diese Zahlen kaum überprüfen. Dennoch ist klar: Tödlicher war der Nahostkonflikt seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Das hat auch Auswirkungen auf Deutschland.

Einige Berlinerinnen und Berliner befürworten offenkundig die Taten der Hamas

Besonders in Berlin spielen sich derzeit Szenen ab, die viele in der jüdischen Gemeinschaft verunsichern. Auf Protesten rufen Teilnehmer "Intifada bis zum Sieg" oder "Hamas, du Bewegung des Volkes! Lasst die Waffen nicht los!", wie etwa am Sonntag auf einer von der Polizei aufgelösten Kundgebung auf dem Potsdamer Platz geschehen. Einige Berlinerinnen und Berliner befürworten offenkundig die Taten der Hamas. Nur kurz nach dem Terrorangriff auf Israel verteilten Extremisten im Berliner Stadtteil Neukölln Süßigkeiten, um die Morde zu feiern, und in den vergangenen Tagen wurden an die Fassaden mehrerer Häuser Davidsterne gemalt – wahrscheinlich um darin lebende Juden als solche zu kennzeichnen.

Laut dem Berliner Antisemitismusbeauftragten Samuel Salzborn stellen diese "antisemitischen Markierungen an Wohnhäusern objektiv eine massive Gefährdung für Jüdinnen und Juden dar, da sie eine Vorbereitung für antisemitische Gewalt sein können". Auf Anfrage unserer Redaktion erklärte die Berliner Polizei, dass insgesamt 22 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Davidstern-Markierungen eingeleitet worden seien. Die Polizei habe "die Schutzmaßnahmen für jüdische und israelische Einrichtungen bis auf Weiteres deutlich erhöht".

Dass es nicht nur bei einer abstrakten Bedrohungslage bleiben würde, erwies sich in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Laut Darstellung der Polizei warfen Unbekannte zwei Molotow-Cocktails in Richtung einer Synagoge in Berlin-Wedding. Der Zentralrat der Juden in Deutschland äußert sich schockiert zu dem Ereignis: "Wir alle sind erschüttert über diesen Terroranschlag", heißt es in einer Pressemitteilung. "Die Vernichtungsideologie der Hamas gegen alles Jüdische wirkt auch in Deutschland."

Der Zentralrat ist die wichtigste Interessensvertretung der Juden in Deutschland. Offiziell zählen die dem Zentralrat zugehörigen Gemeinden etwa 100.000 Mitglieder. Insgesamt leben laut Schätzungen hierzulande um die 200.000 Jüdinnen und Juden. Für sie ist Polizeischutz eigentlich Alltag: Keine Synagoge, keine jüdische Einrichtung, vor der nicht bewaffnete Beamte stehen müssen. Ein "Normal" hat es für die Juden in der Bundesrepublik nie gegeben. Seit dem 7. Oktober herrscht für sie dennoch der Ausnahmezustand.

Rabbinerin: "Man ist vorsichtiger und aufmerksamer"

Die größte jüdische Gemeinschaft gibt es in Berlin. Wie die derzeitige Situation das Verhalten vieler Jüdinnen und Juden in der deutschen Hauptstadt verändert, weiß Gesa Ederberg. "Man ist vorsichtiger und aufmerksamer", erzählt die Rabbinerin der Synagoge in der Oranienburger Straße. Auch sie kann bestätigen, dass am Freitag deutlich weniger Kinder in den jüdischen Kitas und Schulen waren.

"Andererseits waren an Schabbat auch viele Menschen in der Synagoge, die nicht unbedingt jede Woche kommen", so die Rabbinerin, die der jüdischen Strömung "Masorti" angehört. "Gerade jetzt suchen sie Nähe und Gemeinschaft." Viele Gemeindemitglieder würden über mindestens eine Ecke israelische Familien kennen, die von dem Angriff der Hamas betroffen sind: Angehörige von Geiseln, die in Gaza festgehalten werden, Hinterbliebene von Ermordeten.

"Wir haben im Gottesdienst zusätzliche Gebete für die Verschleppten, Verwundeten und Getöteten eingefügt", erzählt Ederberg. Außerdem entwickelten Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher an jüdischen Einrichtungen derzeit Strategien, um angemessen mit den Kindern über die Ereignisse zu sprechen. Auch spezialisierte psychologische Beratungsstellen hätten ihr Angebot ausgeweitet. Die ganze Situation, erzählt die Rabbinerin, liege wie eine bleierne Decke über der Gemeinde. "Man versucht dennoch, den Alltag so gut es geht zu bewältigen. Was bleibt uns anderes übrig?"

Berlin ist ein Magnet für junge Menschen, auch für zahlreiche Jüdinnen und Juden aus Israel, den USA oder anderen deutschen Städten. Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), lebt hier. "Wir sind die ganze Zeit in Alarmbereitschaft, wir schlafen nicht, wir essen nicht", beschreibt sie die Situation der jungen jüdischen Community. In Berlin hätten derzeit viele von ihnen Angst, sich als jüdisch zu erkennen zu geben, so Veiler. "Man vermeidet, einen Davidstern oder eine Kippa zu tragen. Man vermeidet bestimmte Gegenden."

Veiler ist schockiert von der Feindseligkeit, die ihr und anderen jüdischen Studierenden derzeit entgegenschlage. "Die JSUD kann gerade keinen Beitrag in den sozialen Medien veröffentlichen, ohne Dutzende Hasskommentare zu bekommen." An ihre Vereinigung wendeten sich aktuell zahlreiche jüdische Studierende mit ihren Sorgen und Anliegen. Darunter besorgniserregende Nachrichten: "Uns erreichen pausenlos Berichte von Universitätsangehörigen, die sich antisemitisch äußern." Veilers ernüchterndes Fazit: "Wir sehen gerade, dass Universitäten in Deutschland alles andere als ein sicherer Ort für Jüdinnen und Juden sind." Von den Universitätsleitungen erwarte sie mehr Maßnahmen zum Schutz jüdischer Studierender.

Viele Solidaritätsbekundungen mit Israel und der jüdischen Gemeinschaft

Zur gleichen Zeit registriert die JSUD-Präsidentin die vielen Solidaritätsbekundungen mit Israel und der jüdischen Gemeinschaft. So kamen etwa 2.000 Menschen am Tag nach dem Hamas-Massaker am Brandenburger Tor zusammen, um ein Zeichen gegen Israel- und Judenhass zu setzen. Und während des letzten Freitagsgottesdienstes stellten sich hunderte Berlinerinnen und Berliner schützend vor die Synagoge am Fraenkelufer. "Ich spreche mit vielen jüdischen Studierendenvertreterinnen und -vertretern im Ausland – dort gibt es so etwas kaum", sagt Veiler. Sie hoffe, dass diese Unterstützung anhalten wird. Doch sie befürchte, dass es anders kommt.

Zu den Gesprächspartnern:

  • Elio Adler ist Zahnarzt und lebt in Berlin. Er ist Gründer und Vorsitzender des Vereins "WerteInitiative", der sich selbst als "eine zivilgesellschaftliche, jüdische Stimme in Deutschland" beschreibt.
  • Gesa Ederberg ist Gemeinderabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Sie betreut die Synagoge Oranienburger Straße.
  • Hanna Veiler ist die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Sie studiert an der University for Peace der Vereinten Nationen und lebt in Berlin.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Elio Adler, Gesa Ederberg und Hanna Veiler
  • Schriftliche Anfragen an die Berliner Polizei sowie an Samuel Salzborn, den Antisemitismusbeauftragen Berlins
  • Pressemitteilungen der Berliner Polizei und vom Zentralrat der Juden in Deutschland
  • Video der NGO "democ. e. V." von pro-palästinensischen Protesten auf dem Potsdamer Platz in Berlin, gepostet am 15. Oktober auf "X"
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