Vor 30 Jahren trennte sich Transnistrien gewaltsam von der Republik Moldau mit Hunderten Toten. Seitdem rumort es in dem De-facto-Staat immer wieder, auch weil Russland dort seinen Einfluss ausweitet. Ob der Ukraine-Krieg den schwelenden Konflikt wieder anheizt, darüber sprach die Osteuropa-Expertin Sabine von Löwis mit unserer Redaktion.

Ein Interview

Frau von Löwis, Transnistrien ist ein abtrünniges Gebiet der Republik Moldau. Warum rumort es dort?

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Sabine von Löwis: Als die Sowjetunion zusammenbrach und sich als Staatengebilde auflöste, hat sich Transnistrien aus der Republik Moldau abgetrennt. Letztere wollte Rumänisch als Staatssprache einführen. Jenseits des Flusses Dnister gab es aber eine starke, russischsprachige Minderheit und die größte Industrieansiedlung der Republik. Diese Gruppe war gegen die Einführung der rumänischen Sprache und die Pläne einer Eingliederung Moldaus an Rumänien. Aus diesem Widerstand der Industrie-Kollektive entwickelte sich 1989 eine separatistische Bewegung. 1992 gab es bei militärischen Auseinandersetzungen über 580 Tote. Am Ende gab es zwar einen Waffenstillstand, aber der Konflikt ist bis heute ungelöst.

Was passierte danach?

Es entstanden Verwaltungsstrukturen, aus denen sich ein Staat entwickelte, der international nicht anerkannt ist, ein sogenannter De-facto-Staat. Trotzdem hat er mit verschiedenen Ministerien, einem Gesundheits-, einem Bildungssystem und einer eigenen Währung Strukturen eines funktionierenden Staates.

Moldau hat sich immer dagegen gewehrt.

Ja, Moldau sieht Transnistrien weiterhin als Teil seiner Republik an. Darum ging es auch in vergangenen Friedensverhandlungen ab 1992 - also um die Frage, wie das abtrünnige Gebiet wieder integriert werden kann. Auch bedingt durch die Abhängigkeit von Russland wurde von den lokalen Politikern in der Vergangenheit immer wieder ein Angliederungswunsch an Russland bekundet.

Wie kann man sich das Leben in einem abtrünnigen Gebiet vorstellen?

Ich war zuletzt 2019 dort und habe nach wie vor Kontakte dorthin. Zunächst kann ein De-facto-Staat keine internationalen Beziehungen eingehen. Deshalb ist die politische und ökonomische Situation schwierig. Viele Menschen ziehen weg. Ende der 1980er, Anfang der 1990er lebten dort noch ungefähr 750.000 Leute, jetzt nur noch circa 440.000. Die Gehälter sind niedrig, nur die Älteren bleiben. Der autoritäre Staat ist etwa durch Gaslieferungen und Rentenzahlungen stark von Russland abhängig.

Dazu kommt, dass die Politik durch die Sheriff-Gruppe geprägt ist. Sie wird von zwei Oligarchen gelenkt, die sich unterschiedliche Unternehmen angeeignet haben und so die Wirtschaft kontrollieren - und die Politik, samt eigener Partei. Vor kurzem hat der Fußballklub der Oligarchen FC Sheriff Tiraspol Schlagzeilen gemacht, weil er 2021 in der Champions League spielte. Das war natürlich für so einen kleinen De-facto-Staat etwas sehr Besonderes.

Vor einem Jahr marschierte Russland in der Ukraine ein. Droht der eingefrorene Konflikt in Moldau durch den Angriffskrieg wieder heiß zu werden?

Eingefroren war der Konflikt nie - er war immer da, wenn auch unterschwellig. Jetzt tritt er wieder mehr in den Vordergrund, weil für die Ukrainer und Moldauer die russischen Truppen, die in Transnistrien mit 1.500 Soldaten noch immer stationiert sind, ein Sicherheitsrisiko bilden. Dazu kommen noch die 7.000 transnistrischen Soldaten. Laut Beobachtern sind die von Russland so genannten "Friedenstruppen" seit 2014 aber nicht mehr ausgetauscht oder erweitert worden.

Ein Risiko stellt das große Waffenlager dar, mit schätzungsweise 20.000 Tonnen an Munition und anderen Rüstungsgütern aus sowjetischer Zeit. Zwar beobachtet die Ukraine Transnistrien ganz genau. Mit Kriegsbeginn haben die Ukrainer ihre Grenze zum abtrünnigen Gebiet sofort geschlossen. Die Anschuldigungen an die Ukraine, in Transnistrien Unruhe zu stiften, passen gut in die Destabilisierungstendenzen der russischen Propaganda.

Versucht Russland durch den Krieg gegen die Ukraine, Transnistrien an sein eigenes Staatsgebiet anzuschließen? Oder gegen Moldau den nächsten Krieg anzuzetteln?

Im Frühjahr 2022 wurde von einem russischen Militär geäußert, dass ein Ziel sei, eine Landverbindung zwischen den russisch besetzten Gebieten im Südosten der Ukraine nach Transnistrien zu schlagen. Ich bin keine Spezialistin für militärische Fragen, aber die Entwicklungen zeigen, dass die russische Armee hier erfolgreich von der ukrainischen zurückgedrängt wurde. Derzeit wird dieses Bedrohungsszenario hauptsächlich im politischen und medialen Diskurs aufgebaut und hoffentlich bleibt es auch dort.

Kürzlich hat Wladimir Putin ein Dekret aus dem Jahr 2012 annulliert, das eine endgültige Lösung des Konflikts um Transnistrien nur unter Bewahrung der Souveränität der Republik Moldau vorschrieb.

Seit gut zehn Jahren finden nach längerem Stillstand wieder Verhandlungen statt. Das Dekret war ein Bekenntnis Russlands, die Souveränität Moldaus anzuerkennen und zur Lösung beizutragen. Bei den 5+2-Verhandlungen waren Transnistrien und Moldau dabei sowie Russland, Ukraine und die USA als Co-Mediatoren. Die EU und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) waren als Beobachter dort. Die jetzige Aufhebung des Dekrets bedeutet, dass Russland hier eine neue Position einnimmt und der Verhandlungs- und Friedensprozess unter veränderten Rahmenbedingungen stattfindet. Nun muss geschaut werden, wie die Parteien weiterhin zusammenkommen. Da ist gerade viel in Bewegung.

Was wollen die Menschen in der abtrünnigen Republik?

Die Politiker Transnistriens selbst möchten die Verhandlungen fortführen, so ist mein Eindruck. Sie fühlen sich zwischen zwei Staaten mit EU-Kandidatenstatus – Moldau und Ukraine - eingezwängt. Und ihre Schutzmacht Russland wird auch für sie immer unberechenbarer. Weder Moldau noch Transnistrien wollen in den Krieg in der Ukraine hineingezogen werden, so jedenfalls würde ich auch die Äußerungen der transnistrischen Politik im vergangenen Jahr einordnen.

In Moldau ist jetzt die proeuropäische Regierungschefin Natalia Gavrilita zurückgetreten.

Auch das ist der Versuch einer Destabilisierung seitens Russlands. Auf Druck einer sehr starken, russlandfreundlichen Partei, einer Art Bewegung, ist die Regierungschefin zurückgetreten. Moldau kämpft schon lange mit ökonomischer und politischer Transformation und ist zusätzlich durch die Covid-Pandemie und die Auswirkungen durch den Krieg geschwächt, denn es bezieht auch Gas und Öl aus Russland. Die Exporte nach Russland sind durch den Krieg unterbrochen. Die pro-russischen Proteste wurden vom moldauischen Oligarchen Ilan Shor orchestriert, der russlandfreundlich ist. Insofern ist die Situation auch in Moldau sozioökonomisch und politisch angespannt.

Ganz konkret zeigt dies auch ein detailliertes Strategiepapier des Kremls, das ein Rechercheverbund gerade veröffentlicht hat. In Putins Plan soll sich Moldau vom Westen lossagen und eine Zukunft an der Seite Russlands anstreben.

Die Berichte zum Kreml-Papier passen sehr gut zu den in den letzten Wochen beobachteten Entwicklungen in Moldau und zu den Äußerungen russischer Eliten, um die Stimmung im Land zu beeinflussen. Die russische Regierung erhebt auch in Moldau Hegemonialansprüche und scheint dafür konkrete Pläne zu haben.

Russisch dominierte wirtschaftliche und sicherheitspolitische Organisationen wie die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sollen als Alternativen zu EU und Nato in der Gesellschaft etabliert werden. Hinzu kommt die Verbreitung der Idee der "Russischen Welt" über Bildung, Medien und Kultur. Das ist ein zivilisatorisches Konzept, das aus russischer Perspektive als Gegenmodell zum als negativ konnotierten "liberalen Westen" steht und neben kulturellen Aspekten religiöse, ethnonationale und politische Ideen vermittelt.

Bitte erklären Sie das Konzept ein wenig näher.

Ursprünglich begann das Konzept der russischen Welt mit Sprach- und Kulturveranstaltungen und -vermittlung; ähnlich wie es vielleicht das Goethe-Institut oder das Institut Française und andere machen. Inzwischen werden damit auch Werte und Einstellungen der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau vertreten oder Intoleranz gegenüber Homosexualität, die Stärkung militärisch-patriotischer Einstellungen, antidemokratische oder auch antiwestliche Ressentiments. So werden durch russische NGOs oder Medien in Moldau oder auch Transnistrien über verschiedene Aktivitäten und Veranstaltungen diese Werte vermittelt. Auch die von Russland unterstützen Demonstrationen gegen die moldauische Regierung in Chisinau können sicher in diesen Kontext eingeordnet werden.

Moldau grenzt an den EU-Nato-Staat Rumänien. Droht hier der nächste Krieg?

Die beiden Staaten haben gute Beziehungen. Rumänien hat Moldau zu Beginn des Ukraine-Kriegs stark mit regenerativen Energien, Öl und Gas unterstützt. Gleichwohl will Moldau seinen Neutralitätsstatus behalten und keine internationalen Truppen auf seinem Gebiet haben. Eine Konfliktlinie zwischen Moldau und Rumänien sehe ich aber nicht. Finanzielle Unterstützung würde Moldau stabilisieren. Die hohe Inflation hat die Menschen dort mit aller Wucht getroffen, weil es keine Auffangschirme wie bei uns gibt. Das würde vielen helfen.

Zur Person: Sabine von Löwis leitet seit Dezember 2017 den Forschungsschwerpunkt "Konfliktdynamiken und Grenzregionen" am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). Sie studierte Wirtschafts- und Sozialgeographie an der Technischen Universität Dresden und promovierte an der HafenCity Universität Hamburg.
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