- Eine breite Mehrheit im EU-Parlament ist fest entschlossen, Ungarns rechtskonservative Regierung dafür zu bestrafen, dass sie den Rechtsstaat aushöhlt. Sie will Ministerpräsident Viktor Orbán den Geldhahn zudrehen.
- Weil die EU-Kommission nicht mitzieht, ist zwischen Parlament und Kommission ein Streit entbrannt.
- Ein neues Gutachten soll der Kommission nun einheizen. Denn die Parlamentarier sind sich sicher: Die Kürzung von EU-Mitteln ist die schärfste Waffe gegen Orbán.
Daniel Freunds Geduld ist dahin. "Orbán schafft jeden Tag Fakten. Er plündert in einer Geschwindigkeit und einem Maßstab öffentlichen Besitz, das kann man sich kaum vorstellen", sagt der Europaabgeordnete der Grünen im Gespräch mit unserer Redaktion. "Da werden Autobahnen zugunsten von Gefolgsleuten privatisiert und Sozialwohnungen 90 Prozent unter dem Marktpreis an die eigenen Leute verschleudert."
Ungarns nationalkonservative Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán bereichert nicht nur sich selbst und ihre Gefolgsleute. Sie macht auch die Justiz gefügig, die Forschung abhängig und kritische Medien mundtot. Kurzum: Sie untergräbt den Rechtsstaat. Das alles ist nicht neu - neu ist die Entschlossenheit, mit der eine breite Mehrheit des EU-Parlaments sich wehrt.
EU-Parlament greift zu drastischem Mittel
Seit Januar hat die EU-Kommission ein mächtiges Instrument in der Hand, um Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedsländern zu sanktionieren. Der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus ermöglicht es der Gemeinschaft, einem EU-Staat die Mittel aus dem EU-Haushalt zu kürzen, wenn wegen Rechtsstaatsverstößen ein Missbrauch dieser Gelder droht. Zum Missfallen des Parlaments ist das Verfahren bislang jedoch nicht zum Einsatz gekommen. Denn Ungarn und Polen klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die Regelung - und die Kommission hat den beiden Ländern im Herbst versprochen, das Urteil abzuwarten. Im Gegenzug gaben Ungarn und Polen ihre Blockadehaltung gegen den EU-Haushalt und den Corona-Rettungsfonds auf.
Die Mehrheit des Parlaments aber will nicht länger warten. "Die Kommission argumentiert, dass das Verfahren gründlich vorbereitet werden muss, das ist sicherlich ein Faktor. Aber die Dringlichkeit ist eben auch ein Faktor", sagt Daniel Freund. Schon Anfang Juni hat sich das Parlament mit 506 gegen 150 Stimmen (bei 28 Enthaltungen) deshalb zu einem drastischen Schritt entschlossen: Es hat eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission auf den Weg gebracht. Die Kommission hat jetzt bis zum 24. August Zeit, selbst aktiv zu werden. Reagiert sie nicht, will das Parlament binnen zwei Monaten eine Klageschrift vorbereiten. "Wenn bis Oktober nichts passiert, gehen wir vor den EuGH", sagt Daniel Freund. "Wir ziehen das durch."
Parlamentarier: "Gibt jetzt wirklich keine Ausreden mehr"
Jüngst haben Freund und seine Mitstreiter dann noch ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das der Kommission zusätzlich Dampf machen soll. Die Professorin Kim Scheppele von der Universität Princeton sowie die Professoren Daniel Kelemen von der Universität Rutgers und John Morijn von der Universität Groningen bescheinigen darin, dass Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn die finanziellen Interessen der EU ernsthaft beeinträchtigen können. Die Logik dahinter: Weil Ungarns Justiz nicht unabhängig ist, kann sie auch nicht sicherstellen, dass die Milliarden aus den Fördertöpfen der EU zielgerichtet verwendet werden, weil in aller Regel die nationalen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte dafür zuständig sind, eventuellen Missbrauch von EU-Geldern aufzudecken und zu ahnden.
Für Freund ist damit eindeutig belegt, dass die Voraussetzung für ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn erfüllt sind. "Der Text ist so formuliert, dass die Kommission ihn einfach in einen Umschlag stecken und nach Budapest schicken kann. Es gibt jetzt wirklich keine Ausrede mehr, das noch weiter zu verzögern."
Ungarn muss auf Corona-Milliarden warten
Für Ungarn geht es um jede Menge Geld. Aus dem regulären EU-Haushalt bekam das Land zuletzt rund sechs Milliarden Euro jährlich. Aktuell rechnet das Land außerdem mit Corona-Hilfen in Höhe von rund 7,2 Milliarden Euro - wobei letztere noch nicht ausbezahlt sind, weil die EU-Kommission dem Plan der Regierung zur Verwendung der Gelder bislang die Freigabe verweigert. Man habe Sorge, dass die Gelder missbräuchlich verwendet werden, heißt es aus EU-Kreisen.
Parlamentarier Freund ist überzeugt, dass das Geld Orbáns Achillesferse ist. "Ich glaube, das ist der stärkste Hebel, den wir haben. Der Widerstand aus Ungarn und Polen gegen den Rechtsstaatsmechanismus war aus meiner Sicht auch deshalb so rabiat, weil sie sich davor fürchten", sagt er. Über 90 Prozent der öffentlichen Investitionen in Ungarn - Straßen, Schulen, schnelle Internetleitungen - würden von der EU mitfinanziert, wobei die Förderung oft den Löwenanteil ausmache. "Wenn das wegfällt, löst das sofort Druck auf Orbán aus", sagt Freund. Der nutze das Geld schließlich auch gezielt, um sich politische Unterstützung zu erkaufen, zum Beispiel, indem das Geld in jene Gemeinden fließe, wo Fidesz regiert, während oppositionsregierte Kommunen leer ausgingen. "Wenn Orbán sich seinen Support nicht mehr erkaufen kann, wird es glaube ich schnell ungemütlich für ihn."
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