Nach der Präsidentschaftswahl sind die belarussischen Behörden brutal gegen Protestierende und Passanten vorgegangen. Drei Betroffene haben unserer Redaktion ihre Geschichte geschildert – und von Schlägen, Demütigungen und Folterungen bei der Festnahme und im Gefängnis berichtet.

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Okrestino. Allein der Name der Haftanstalt im Südwesten von Minsk sorgt bei Menschen in Belarus für Angst. Denn das Untersuchungsgefängnis ist weit über die Grenzen der belarussischen Hauptstadt bekannt. Bekannt für den unmenschlichen Umgang mit den Inhaftierten. Und dieser Tage insbesondere mit jenen, die im Zuge der seit mehr als einer Woche anhaltenden Proteste festgenommen wurden.

Seit dem Tag der Präsidentschaftswahl am 9. August steckten Sicherheitskräfte offiziellen Angaben zufolge mehr als 6.700 Menschen in Haft. Männer, Frauen, Jungen, Mädchen, Alte und Junge. Oftmals willkürlich, fast immer mit Gewalt. Tausende wurden zwar mittlerweile wieder freigelassen. Doch die, die über ihre Haftzeit sprechen, berichten alle ausnahmslos von Schlägen, Demütigungen und Folterungen.

"Wir mussten für 17 Stunden an einem Zaun stehen, Beine schulterbreit, Arme nach oben. Wir durften nur zum Zaun schauen und uns auf keinen Fall umdrehen. Sobald die Wärter meinten, wir hätten uns bewegt, wurden wir mit einem Schlagstock traktiert", sagt Jewhen Wasilijew. Der ukrainische Menschenrechtsaktivist war vom 12. bis zum 14. August in Okrestino inhaftiert.

Unserer Redaktion hat er seine Geschichte in einer langen Sprachnachricht geschildert. Zudem haben wir mit einem festgenommenen Israeli gechattet sowie mit der Schwester eines Inhaftierten telefoniert. Alle drei erzählen von brutal vorgehenden Beamten, von Grausamkeiten, von unmenschlicher Behandlung. Ihre Aussagen decken sich mit den Berichten anderer freigelassener Inhaftierter in belarussischen sowie internationalen Medien.

Ein Wärter gab die Anweisung, die Frau nicht zu verschonen

Wasilijew arbeitet als Projektkoordinator bei der ukrainischen Organisation Vostok SOS. Der verheiratete Familienvater war nach Minsk gereist, um dort zusammen mit dem Leiter von Vostok SOS, Kostjantin Reuzki, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.

Als Wasilijew vergangenen Mittwoch im Stadtzentrum filmte, wie ein Mann erst festgenommen und dann in einem Polizeiauto zusammengeschlagen wurde, hielten Polizisten auch ihn fest (das nachfolgende Video zeigt seine Festnahme). "Sie haben mich einem Vorgesetzten vorgeführt, der mich direkt beleidigte und ins Gesicht schlug."

Wasilijew wurde zusammen mit Reuzki inhaftiert, im Gefängnis seien immer mehr Gefangene dazu gekommen. "Am Ende waren etwa 50 Leute im Hof, unter ihnen drei Frauen, eine von ihnen wurde sehr stark geschlagen." Einer der Wärter habe die Anweisung gegeben, sie nicht zu schonen, sondern ihre Beine so weit auseinander zu halten, "dass ihr am nächsten Morgen die Gebärmutter herausfällt", wie sich Wasilijew erinnert.

Er berichtet von weiteren Misshandlungen und Folterungen: Einem neben Wasilijew stehenden Mann mit langen Haaren habe ein Polizist die Haare abgeschnitten. Und einem anderen hätten sie ein Stück seiner Hose am Hintern abgerissen und ihm angedroht, ihn mit dem Schlagstock rektal zu vergewaltigen, wenn er sein Handy nicht entsperre. "Er hat sich lange gewehrt, bis sie ihre Drohung umgesetzt haben. Sie haben ihn so stark verprügelt, dass er nicht mehr stehen, sondern nur noch liegen konnte", sagt Wasilijew.

Nicht alle Wärter verhielten sich unmenschlich

Nach und nach hätten sie alle Inhaftierten "bearbeitet". "Diejenigen, die von den Demonstrationen kamen, wurden am schlimmsten geschlagen, im Auto und auch im Gefängnis", erläutert Wasilijew. Die von ihm beobachteten Taten seien sowohl von Polizisten, als auch von Beamten der inneren Sicherheit sowie der Spezialeinheit OMON ausgegangen.

Junge Milizionäre, etwa 20 Jahre alt, wie Wasilijew schildert, hätten die Befehle der älteren ausführen müssen. "Und wenn die jungen das nicht gemacht haben, zwangen die älteren Milizionäre sie, mehr Gewalt anzuwenden." Zugleich betont Wasilijew aber, dass sich nicht alle Wärter unmenschlich verhielten. Zweimal sei er sogar auf die Toilette geführt worden und es wurde ihm erlaubt, sich dort kurz auszuruhen und zu strecken.

Nach der ersten Nacht seien Wasilijew und Reuzki jedoch von Polizisten abgeholt worden, die "viel schlimmer" waren. "Die Gefängniswärter kamen mir vor wie Engel im Vergleich zu denen." Sie hätten nur geschrien, nie normal geredet und immer wieder Befehle erteilt, die nie ihren Ansprüchen genügen konnten.

"Okrestino ist eine Folterkammer"

"Okrestino ist eine Folterkammer, schlimmer als die Hölle", sagt Alexander Fruman. Der Datenwissenschaftler wanderte in den 1990er Jahren nach Israel aus und kehrte nun nach Minsk zurück, um seiner Frau seine Heimatstadt zu zeigen.

Bei einem Spaziergang am 10. August fotografierte er einen Bus mit Polizisten. Diese seien sofort aus dem Bus gesprungen und hätten ihn vor den Augen seiner Frau verprügelt und mitgenommen. Auf der Fahrt in die Haftanstalt haben die Festgenommenen gebetet, dass sie nicht nach Okrestino kommen, erinnert sich Fruman.

"Ich habe 78 Stunden in der Haft verbracht." Vor allem die ersten 16 Stunden im Polizeirevier seien "sehr schwer" gewesen. "Ich wurde gefoltert und gezwungen, in unbequemen Positionen über Stacheldraht gebeugt zu stehen."

"Die Polizisten schlugen mich mit Gummistöcken und Händen", erzählt Fruman weiter. Dass er israelischer Staatsbürger ist, habe ihm nicht geholfen – im Gegenteil. "Sie haben mich mit antisemitischen Flüchen belegt und mich manchmal dafür [wegen seiner jüdischen Herkunft, Anm. d. Red.] geschlagen. Sie drohten, mich erneut zu beschneiden."

Wie "im Dritten Reich"

Bei der Verlegung vom Polizeirevier in die Haftanstalt nach Schodsina, etwa 55 Kilometer nordöstlich von Minsk, hätten die Menschen übereinander gelegen. "Ein Typ, der unter mir lag, wurde ohnmächtig. Ein anderer schiss sich in die Hose." Wie in Minsk sei auch das Gefängnis in Schodsina überfüllt gewesen. In einer Zelle für acht Personen seien sie zu achtzehnt gewesen.

Wie Wasilijew habe auch Fruman mit ansehen müssen, wie andere misshandelt wurden. "Ich sah, wie ein geistig behinderter Mann gefoltert wurde. Er war 21, verhielt sich aber wie ein Sechsjähriger. Das alles erinnerte mich an die Umstände im Dritten Reich." Die Beamten hätten Freude an dem gehabt, was sie taten. Für Fruman seien sie "Sadisten".

Geschlagen bis zur Bewusstlosigkeit

Dass das brutale Vorgehen von Polizeieinheiten und Sicherheitskräften nicht nur auf die Hauptstadt beschränkt blieb, zeigen nicht nur zahlreiche Videos von gewaltsamen Festnahmen im ganzen Land, sondern auch der Fall eines 36 Jahre alten Programmierers aus Hrodna an der Grenze zu Polen.

Er war am Wahlabend auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, erzählt seine Schwester Violetta Belskaja am Telefon. Die 20-Jährige lebt in Deutschland, wegen Sicherheitsbedenken soll der Name ihres Bruders nicht veröffentlicht werden.

In einem Innenhof in der Nähe seines Büros sei eine OMON-Einheit auf ihn zugestürmt und hätte sofort auf den 36-Jährigen eingeprügelt. "Sie haben ihm mit Schlagstöcken auf den Kopf geschlagen, auch als er am Boden lag. Er war kurz bewusstlos und kam erst im Polizeibus wieder zu Bewusstsein." So begann sein erster Kontakt zur Polizei in seinem Leben, sagt seine Schwester.

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Der IT-Experte wurde ihr zufolge in eine örtliche Haftanstalt gebracht. "Dort waren bereits sehr viele Menschen. In einer Zelle für vier Personen waren etwa 20 Leute." Alle hätten stehen müssen. Als sich ihr Bruder weigerte, das Passwort für sein Handy zu verraten, sei er misshandelt worden. "Vier oder fünf Beamte hielten ihn fest und stießen ihn kopfüber in ein Klo", sagt Belskaja. Sie bemerkt: "Im Vergleich zu anderen Fällen war das noch harmlos."

Es wurde gedroht: "Wenn ihr was sagt, werdet ihr alle sterben"

Weil das Gefängnis so voll war, hätten die Menschen im Hof auf dem Boden mit dem Gesicht nach unten liegen müssen. "Die Wärter haben sich auf die Inhaftierten gestellt und sind auf sie draufgesprungen." Belskaja glaubt, dass es gebrochene Wirbelsäulen und Nacken geben muss.

"Jeder, der sich auch nur ein wenig gewehrt hat, wurde mit Schlagstöcken verprügelt", berichtet Belskaja weiter. Eine Frau habe ihre Periode gehabt. "Ihr wurden Hygieneartikel verweigert, sie wurde ausgelacht und ihr Blut ins Gesicht geschmiert." Allen sei gedroht worden: "Wenn ihr was sagt, werdet ihr alle sterben." Es habe all die Zeit kein Wasser und kein Essen gegeben. Das Licht war Tag und Nacht an.

"Du hast dich beschwert? Pass auf, da kommt noch was!"

Insgesamt war ihr Bruder 24 Stunden in Haft. "Aber er befindet sich weiter in einer schwierigen Situation", sagt Belskaja. Ein Amtsarzt hätte es abgelehnt, die blauen Flecken des 36-Jährigen zu registrieren und ein Gutachten zu schreiben. Die Polizei hätte die Wohnung durchsucht und seinen Laptop mitgenommen. "Du hast dich beschwert? Pass auf, da kommt noch was!", hätten die Beamten ihrem Bruder gesagt. Und ihm eine mehrjährige Haftstrafe angedroht.

Wenn sie auf dem Computer nichts finden, was sie ihm anhängen können, würden sie etwas fingieren, ist sich Belskaja sicher. Aus diesem Grund ist ihr Bruder untergetaucht. "Wir können nicht zu ihm, er kann nicht zu uns." Belskaja versucht nun, ein Visum für ihren Bruder zu bekommen, sodass er ausreisen kann – bisher vergeblich.

Die Ungewissheit und die Angst ist groß, aber die 20-Jährige hat immerhin Kontakt zu ihrem Bruder. Anders bei mehr als einem Dutzend Frauen und Männern, von denen derzeit jede Spur fehlt. Sie verschwanden während der Proteste. Viele gehen vom Schlimmsten aus.

Verwendete Quellen:

  • Chats mit Jewhen Wasilijew und Alexander Fruman sowie Telefonat mit Violetta Belskaja
  • Buzzfeed.News: "I Spent Two Terrifying Days Imprisoned In Belarus"
  • TUT.BY: "'Били и спрашивали, что нам не нравится в стране'. Что рассказывают выходящие из ЦИП на Окрестина"
  • TUT.BY: "Вы видели этого человека? Запускаем сервис для поиска пропавших после акций"
  • eigene Recherchen
Transparenzhinweis: Der Autor ist ehrenamtlicher Vorsitzender von Libereco – Partnership for Human Rights. Die deutsch-schweizerische Menschenrechtsorganisation kooperiert in der Ukraine mit Vostok SOS.
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