Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen wird Belarus seit Tagen von Massenprotesten erschüttert, die die Polizei mit Gewalt zu verhindern versucht. Fast 7.000 Menschen sind festgenommen worden, viele Demonstranten verschwunden. Der Vorsitzende der deutsch-belarussischen Gesellschaft und ehemalige DDR-Außenminister Markus Meckel analysiert für uns die Lage im Land.

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Die Protestwelle nach der umstrittenen Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko reißt auch fünf Tage nach der Verkündigung der Wahlergebnisse nicht ab: Tausende demonstrieren weiterhin auf den Straßen des Landes und fordern Neuwahlen.

Am 9. August hatte der seit 26 Jahren amtierende Machthaber Lukaschenko nach offiziellen Angaben einen Wahlsieg von mehr als 80 Prozent eingefahren und sich zum Sieger erklärt. Seine Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja, die inzwischen nach Litauen geflüchtet ist, beansprucht den Wahlsieg jedoch für sich und beruft sich auf Nachwahlbefragungen, die umgekehrte Stimmverhältnisse ergeben haben sollen.

Die Wut der Demonstranten über das Wahlergebnis ist daher enorm. Die Straßen der Hauptstadt Minsk werden auch durch brutale Reaktionen von Sicherheitskräften zu Orten der Gewalt. Polizisten gehen mit Schusswaffen und Tränengas gegen die Demonstranten vor, zwei Menschen sind bereits ums Leben gekommen.

Laut Angaben des Innenministeriums wurden fast 7.000 Menschen festgenommen, Berichten zufolge sind tausende davon in überfüllten Gefängnissen oder an unbekannten Orten verschwunden. Bei ersten Freigelassenen sollen deutliche Spuren von Misshandlungen zu sehen sein.

"Typische Fehler eines Autokraten"

"Ich würde nicht unbedingt von 'verfahren' sprechen", sagt Markus Meckel, Präsident der deutsch-belarussischen Gesellschaft e.V. und ehemaliger Außenminister der DDR. "Wir beobachten aktuell einen Aufbruch in einer Gesellschaft, die das so noch nie erlebt hat", so Meckel weiter. "Im Wahlkampf war von Anfang an deutlich, dass Lukaschenko alles dafür tun würde, um an der Macht zu bleiben. Er hat Kandidaten nicht zugelassen oder verhaften lassen und mit Repression zeigen wollen: 'Es bleibt alles beim Alten'", so der Experte.

Mit dieser Strategie sei der autokratisch regierende Präsident oft erfolgreich gewesen, diesmal hätten aber mehrere Aspekte dazu geführt, dass die Bürger in einer ungewöhnlichen und nicht zu erwartenden Breite aktiv wurden.

"Wahlmanipulationen hat es zwar immer gegeben, aber ähnlich wie im Mai 1989, als die Opposition in der DDR erstmalig Wahlmanipulationen nachweisen konnte, kam es erst jetzt zu größeren Ausschreitungen", vergleicht Meckel.

Dass Lukaschenko seinen Wahlsieg mit über 80 Prozent beziffern ließ und auf Gewalt setzte, sei ein typischer Fehler von Autokraten. "Vielleicht wäre die Lage nicht so eskaliert, wenn er sich offiziell 56 Prozent zugeschrieben hätte und die gewachsenen oppositionellen Kräfte in einem anschließenden politischen Prozess widergespiegelt hätte", mutmaßt Meckel.

Weitere Aspekte spielten ebenfalls eine Rolle: "Belarus steckte zuletzt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Zusammen mit der Coronakrise, die Lukaschenko heruntergespielt hat, führte das zu immer mehr Verunsicherung." Die Bürger hätten die Erfahrung gemacht, vom Staat vor einer gesellschaftlichen Gefahr nicht geschützt zu sein.

Die Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja habe ein anderes Politikmodell angeboten: "Sie war mehr Symbol als Führungskraft und hat zur mit ihrer unkonventionellen Art stark zur Mobilisierung beigetragen."

"Lukaschenko wird sich nicht mehr lange halten können"

Nun aber sieht die Weltgemeinschaft vor allem Bilder gewalttätiger Ausschreitungen. "Lukaschenko diskreditiert und denunziert alle, die ihn infrage stellen", beschreibt Meckel. Er bezeichnet die Demonstranten als "Verräter am eigenen Volk", "Schläger" oder "Arbeitslose".

Meckel hat dennoch die Hoffnung, "dass die Menschen mutig bleiben und weitermachen". Proteste in Minsk und anderen Städten sowie Schweigemärsche von Frauen in weißen Blusen stimmen ihn optimistisch: "Lukaschenko wird sich nicht mehr lange halten können."

Es sei zwar unklar, wie groß sein Rückhalt im Regime noch sei, er hoffe aber, dass – wenn nicht bei Lukaschenko selbst – bei anderen Kräften in der Regierung Vernunft einsetze und ein Gesprächsprozess eröffnet werden könne. Dafür bräuchte Belarus aber auch internationale Unterstützung.

Ziel sei ein Prozess, der die Wünsche der Menschen im Land aufnehme. Dafür könne beispielsweise ein runder Tisch mit Akteuren aus der Zivilgesellschaft eingerichtet werden, moderiert von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Ein ähnliches Format schlug der litauische Präsident Gitanas Nauseda vor, auch Polen und Lettland boten sich als Vermittler an.

"Zunächst einmal muss aber die Gewalt beendet werden", stellt Meckel klar. Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) hat bereits mehr Druck auf Lukaschenko gefordert und den Botschafter des Landes zum Gespräch gebeten. "Es ist vollkommen klar, dass das brutale Vorgehen und die Inhaftierung friedlich Demonstrierender (...) im Europa des 21. Jahrhunderts nicht akzeptabel sein wird", sagte Maas am Donnerstag in Berlin. Auf EU-Ebene werde "intensiv über Sanktionen diskutiert". Am 14. August 2020 treffen sich die EU-Außenminister auf einer gemeinsamen Konferenz.

"Sanktionen, die dort beschlossen werden, sollten gezielt Verantwortliche treffen und nicht die ganze Bevölkerung", fordert Meckel. Dabei könnten beispielsweise Guthaben eingefroren werden oder Reisebeschränkungen auferlegt werden. "Im Anschluss braucht es ein längerfristiges Engagement der Europäischen Union vor Ort", meint Meckel.

Welche Rolle spielt Russland?

Bei der Unterstützung von Neuwahlen sieht er auch die OSZE in der Pflicht. "Es hat in den letzten 25 Jahren keine freien Wahlen in Belarus gegeben, das wird nur mit internationaler Begleitung gelingen", so Meckel.

Wie aber sieht die Unterstützung dafür beispielsweise in Russland aus? Aktuell hält der russische Präsident Wladimir Putin zu Lukaschenko, gratulierte ihm zum Wahlsieg. Sabine Fischer, Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung für Politische Wissenschaft (SWP), betont die wichtige Rolle Russlands für die Situation in Belarus.

"Die russische und die belarussische Politik sind aufs Engste miteinander verquickt. Formal bilden die beiden Länder einen Unionsstaat sowie eine Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft. Belarus gilt als engster Verbündeter Moskaus und als wichtige Stütze der Politik Russlands in seiner Nachbarschaft", schreibt die Wissenschaftlerin in ihrem Essay "Unter Nachbarn. Der russische Blick auf die Nachwahlproteste in Belarus".

Die EU sollte in Fischers Augen daher nicht nur die Forderung nach Neuwahlen unterstützen und Vermittlungsangebote machen, sondern auch mit Moskau klar über mögliche Lösungen ebenso wie über die Kosten einer Intervention kommunizieren.

Über den Experten: Markus Meckel ist Vorsitzender der deutsch-belarussischen Gesellschaft e.V. Der studierte Theologe gründete mit Martin Gutzeit die sozialdemokratische Partei in der DDR. Nach den ersten freien Wahlen 1990 war er Außenminister in der DDR und gehörte von 1990 bis 2009 für die SPD dem Deutschen Bundestag an. Von 2013 bis 2016 war er Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

Verwendete Quellen:

  • Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) : "Unter Nachbarn: Der russische Blick auf die Nachwahlproteste in Belarus“
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