Die Situation in den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln ist weiter zugespitzt. Anfang der Woche war der FDP-Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle selbst auf Lesbos. Im Interview schildert er, wie dramatisch die dortige Lage ist, was die Menschen vor Ort bewegt und welche Lösungen er sieht.
Ob Chios, Samos, Kos, Leros oder Lesbos. Die Lage in den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln ist dramatisch. Hilfsorganisationen kritisieren seit Monaten die dort herrschenden Zustände als unmenschlich.
Dagegen hatten erst Anfang der Wochen rund 2000 Migranten aus dem Registrierlager Moria auf der Insel Lesbos demonstriert. Sie forderten, sofort zum griechischen Festland und von dort in andere EU-Staaten gebracht zu werden. Der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle war vor Ort und hat aus unmittelbarer Nähe sowohl die Proteste, als auch die Situation im Lager Moria erlebt.
Im Interview schildert er, wie dramatisch die Lage ist, was Geflüchtete und Einheimische bewegt und welche Lösungen er sieht.
Herr Kuhle, Sie sind am Dienstag von Lesbos zurückgekehrt. Was ist Ihnen vor allem im Gedächtnis geblieben?
Konstantin Kuhle: Die Situation im offiziellen Flüchtlingslager Moria und dem viel größeren inoffiziellen Lager Olive Grove drumherum ist dramatisch. Viele rechtliche und praktische Anforderungen für die Unterbringung so vieler Menschen können dort gar nicht mehr erfüllt werden.
Wie kann ich mir das vorstellen?
Um das offizielle Lager Moria, das für etwa 3000 Menschen ausgelegt ist, ist ein viel größeres, provisorisches Camp in einem Olivenhain entstanden, daher auch der Name.
Dort sind die hygienischen Bedingungen, die Sauberkeit, die Gesundheitsversorgung absolut katastrophal: Kinder spielen im Dreck, überall gibt es offene Feuer zum Kochen und Heizen und immer wieder gibt es kleinere und größere Brände. Es stinkt nach verbranntem Holz und Plastik sowie nach Müll, der nicht abtransportiert wird. Insgesamt wohnen dort 20.000 Menschen.
Die beiden Lager sind überfüllt. Dementsprechend betragen die Wartezeiten bis zum Abschluss eines Asylverfahren mehrere Monate bis Jahre. Für die Europäische Union ist das eine vollends inakzeptable Situation.
Am Montag hatten sich 2.000 Migranten von Moria auf den Weg in die Inselhauptstadt Mytilini gemacht, sie skandierten "Freiheit, Freiheit". Die griechische Polizei setzte massiv Tränengas gegen die Geflüchteten ein.
Die Situation ist wirklich eskaliert. Laut Anwälten vor Ort kommt das regelmäßig vor. Wir selbst haben auf dem Rückweg vom Camp demonstrierende Migranten und Sitzstreiks gesehen, Tränengaswolken lagen noch in der Luft.
Auf der gesamten Insel herrscht eine unglaubliche Anspannung – sowohl unter den Migranten, als auch unter der einheimischen Bevölkerung.
Sie sagen es: Auf Lesbos leben normalerweise 85.000 Menschen, dazu kommen nun noch 20.000 Flüchtlinge. In der vergangenen und auch in dieser Woche haben immer wieder Einheimische gegen die Zustände protestiert. Sie sollen Medienberichten zufolge bei Demonstrationen skandiert haben: "Wir wollen unsere Inseln und unser Leben zurück."
Für die Einheimischen ist der Tourismus eine der wichtigsten Einnahmequellen. Die derzeitige Lage ist natürlich für Urlauber nicht attraktiv.
Die Menschen auf den griechischen Inseln fühlen sich sowohl von Athen als auch von Brüssel alleine gelassen, sie demonstrieren aber hauptsächlich gegen die griechische Zentralregierung. Diese explosive Situation kann nicht im Interesse der EU sein. Es ist eine Situation, die die Polizei nur mit Mühe einhegen kann.
Wird Griechenland selbst alleine gelassen?
Seit dem 1. Januar gibt es in Griechenland eine neue Asylgesetzgebung. Damit sollen einerseits die Verfahren beschleunigt und die Rückführungen in die Türkei erhöht werden. Etwa die Hälfte der Migranten auf Lesbos kommt aus Afghanistan. Vor Ort soll geklärt werden, ob sie einen Schutzstatus zugesprochen bekommen oder nicht. Doch die griechische Regierung ist damit überfordert.
Ich sehe daher nur zwei Möglichkeiten: Entweder finden die Entscheidungen weiterhin an den Hotspots an den EU-Außengrenzen statt und die Asylberechtigten werden dann verteilt. Oder wir verteilen zuerst und entscheiden dann über den Asylstatus.
Das Hauptinteresse sollte nun aber erst einmal sein, die Lage auf den griechischen Inseln zu verbessern. Die Entscheidung, welcher Ansatz künftig umgesetzt werden soll, ist das eine. Das andere ist die Frage nach Humanität, wie wir beispielsweise mit unbegleiteten Minderjährigen umgehen. Fakt ist: Die Situation dort geht uns alle an.
Kuhle: "Wir brauchen ein EU-Sofortprogramm für Griechenland"
Welche Schritte müssen nun die Europäische Union und die anderen Mitgliedsstaaten unternehmen?
Wir brauchen zuallererst ein EU-Sofortprogramm, um die hygienischen Bedingungen, die Gesundheitsvorsorge und die Infrastruktur auf den griechischen Inseln zu verbessern. Das Programm muss explizit sowohl Migranten als auch der heimischen Bevölkerung zugutekommen.
Die Mitgliedstaaten müssen zugleich Entscheider nach Griechenland entsenden. So können die Verfahren vor Ort beschleunigt werden – bei Einhaltung menschenrechtlicher Standards. Bei akuter Kindeswohlgefährdung im Falle einzelner Minderjähriger müssen wir zudem einen gemeinsamen Ansatz in der Europäischen Union finden.
Und langfristig muss EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen neuen Anlauf für ein gemeinsames, europaweites Asylsystem unternehmen. Das war zuletzt vor allem am Widerstand mehrerer mittel- und osteuropäischer Länder gescheitert. Ein neuer Versuch muss nun oberste Priorität haben.
Ein Land darf nicht gezwungen werden, Flüchtlinge aufzunehmen, aber es muss dann eben anderweitig helfen. Sei es im Grenzschutz, durch Ausgleichszahlungen oder Unterstützungsleistungen im Gesundheitssektor.
Sie fordern, dass über den Flüchtlingsstatus grundsätzlich an den europäischen Außengrenzen entschieden werden muss. Wie soll das Aussehen?
Es gibt unterschiedliche Ausgangssituationen. In Libyen ist derzeit eine Entscheidung über einen Flüchtlingsstatus nicht möglich, in Tunesien hingegen schon. Zugleich haben wir auf den griechischen Inseln eine dermaßen prekäre, humanitäre Notsituation, die nur schwer zu händeln ist.
Idealerweise fällt die Entscheidung über einen Asylstatus bereits bevor sich Migranten auf den Weg machen – und falls möglich an der EU-Außengrenze. Dort muss die Situation und das Zusammenwirken innerhalb der Europäischen Union besser werden.
Auf Lesbos haben Sie sich mit den verschiedensten Vertretern getroffen, sei es mit hohen griechischen Behördenvertretern, wie dem Gouverneur der Region Nordägäis, mit EU-Grenzschützern oder mit Flüchtlingshelfern. Gab es einen Punkt, an dem sich alle einig waren?
Die Verbesserung der hygienischen Bedingungen, da waren sich alle Vertreter einig. Auch eine Beschleunigung der Verfahren stößt überall auf Zustimmung – solange die menschenrechtlichen Standards nicht verletzt werden, was unterschiedlich interpretiert wird.
Bei vielen strittigen Fragen liegt die Wahrheit letztendlich in der Mitte. Allerdings nicht bei der Frage nach den gegenwärtigen Zuständen: Die müssen schleunigst verbessert werden.
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