• Kurz nach dem angekündigten Rückzug des Regierungschefs Mario Draghi sagt Gazprom wieder mehr Gaslieferungen nach Italien zu.
  • Im Juni waren die Liefermengen stark zurückgegangen.
  • Experten halten einen Zusammenhang für möglich – und warnen vor einer bröckelnden Einheit in der EU.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. der zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Es waren zwei Meldungen, die schon für sich gesehen Aufsehen erregen, zusammengenommen aber eine noch größere Brisanz erfahren. Italien steht nach dem Sturz von Mario Draghi durch russlandfreundliche Parteien vor Neuwahlen, kurze Zeit später sagt Gazprom mehr Gaslieferungen an Italien zu.

Künftig sollen 36 statt bisher 21 Millionen Kubikmeter geliefert werden. Das teilte Italiens teilstaatlicher Energieversorger Eni mit. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Auch der italienische Politiker Gennaro Migliore von der Partei Italia Viva kommentierte: "In Russland werden jetzt Champagnerflaschen entkorkt und der Wodka geöffnet."

Gas über Nordstream 1

Italien erhält einen Teil des Erdgases aus Russland über die Pipeline Nord Stream 1, die zuletzt wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet wurde. Gazprom hatte seine Lieferungen nach Italien, Österreich und Frankreich bereits Mitte Juni reduziert und auf Probleme an einer Verdichterstation hingewiesen.

Nach Italien wurden zunächst noch 65 Prozent der angeforderten Menge geliefert. Sind die erhöhten Gasmengen quasi eine Belohnung dafür, dass sich die russlandfreundlichen Kräfte durchsetzen konnten?

Experte sieht möglichen Zusammenhang

Politikwissenschaftler und Italien-Experte Roman Maruhn sagt zumindest: "Nachdem Gazprom sicher nicht vom Kreml und damit Putin zu trennen ist, kann es da auf alle Fälle einen Zusammenhang geben."

Allerdings sei das im Fall Italiens nicht mehr so erheblich – Rom habe es in kurzer Zeit geschafft, seinen Energie- und besonders Gasmix so zu differenzieren, dass das Land von Russland nicht mehr wesentlich abhängig sei. "Dank Regierung Draghi", erinnert Maruhn.

Draghis Rücktritt als problematisches Signal

Die EU dürfe sich nicht durch russische Gaslieferungen beeinflussen lassen oder erpressbar werden. "Auch wenn die Folgen natürlich negative Effekte haben können", sagt Maruhn mit Blick auf die Sanktionen. "Russland muss sofort und bedingungslos die Kampfhandlungen einstellen und sich zumindest auf die Gebiete zurückziehen, die es vor dem 24. Februar 2022 kontrollierte", betont er.

Hinter diese – vergleichsweise weiche Forderung – könne die EU nicht zurückgehen.

Politikwissenschaftler Tobias Fella hält allein schon Draghis Rücktritt für eine "gefährliche Entwicklung für ein Europa im Zeichen des Ukrainekriegs und ein Geschenk für Putins Russland". Fella sagt: "Draghi stand für einen Pro-EU und Pro-Nato-Kurs seines Landes." Er habe für eine harte Haltung nach dem russischen Überfall auf die Ukraine plädiert.

Harter Russlandgegner gestürzt

"Er war Befürworter einer Stärkung der Nato-Ostflanke und von harten Sanktionen gegen Russland, machte früh auf das Thema einer Ernährungskrise durch den Krieg in der Ukraine aufmerksam und reduzierte die italienische Energieabhängigkeit von Russland", zeigt Fella auf.

Er habe Italien beispielsweise weitere Gaslieferungen aus Algerien sowie Angola und dem Kongo als Teil einer Diversifizierungsstrategie gesichert. Vor Kriegsbeginn kamen rund 40 Prozent der Gas-Importe aus Russland. Draghi sei zudem ein wichtiger Treiber des EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine gewesen.

"Völlig verrückt geworden": Putin verspottet den Westen wegen Energiesparversuchen

Russlands Präsident Wladimir Putin macht sich über Energiesparvorschläge lustig, die etwa in Deutschland angesichts der angespannten Gas-Situation verbreitet werden. Er habe kürzlich ein Schaubild gesehen, auf dem Menschen nahe gelegt werden, nur noch bestimmte Körperstellen zu waschen, um warmes Wasser zu sparen und auf diese Weise Putin zu schaden. (Vorschaubild: IMAGO/SNA/Alexey Maishev)

"Draghi versuchte Italien pro-europäisch und transatlantisch auszurichten, das als viertgrößte Wirtschaft der EU großes Potenzial hat, den Kontinent federführend mitzugestalten", erklärt der Experte. Er fürchtet, bei den anstehenden Neuwahlen könnte eine andere Konstellation erwachsen.

"Ein Mitte-Rechts-Bündnis aus Berlusconis Forza Italia, Salvinis Lega und Melonis Fratelli d'Italia (FDI) ist möglich", zeigt Fella auf. Die Ex-Journalistin Meloni, nach Draghi auf Platz zwei der beliebtesten Politiker Italiens, habe Putin bereits als Verteidiger von "europäischen Werten" und der "christlichen Identität" gelobt. Salvini habe ebenso in der Vergangenheit bereits Bewunderung für Putin ausgedrückt.

Lawrow im italienischen Fernsehen

"Im italienischen Fernsehsender 'Rete 4' aus dem Berlusconi-Medienimperium konnte der russische Außenminister Lawrow sein Narrativ des Ukrainekriegs weitgehend ungestört darstellen", erinnert Fella. Berlusconi selbst pflegte lange ein enges Verhältnis zu Putin, es gab beispielsweise gemeinsame Urlaube.

Für die Sendung "Zona bianca" hatte es jede Menge Kritik gehagelt: Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte sein erstes Interview seit Kriegsbeginn gegeben und darin über die russische Sicht des Ukraine-Krieges monologisiert. Zur besten Sendezeit nannte er das Massaker an Zivilisten in Butscha Fake und erklärte, Russland wolle die Menschen im Osten der Ukraine vor einer Nazifizierung retten.

Russlandfreundlicher Kurs denkbar

Fella hält es für denkbar, dass eine mögliche Mitte-Rechts-Regierung in Italien eine Politik fährt, die die Einheit des Westens beschädigt. "Beispielsweise indem sie die Ukraine auf nachteilige Verhandlungen mit Russland drängt sowie sich gegenüber weiteren Sanktionen gegen Russland und neuer militärischer Unterstützung für Kiew skeptisch zeigt."

Eine italienische Mitte-Rechts-Regierung könnte sich aus Fellas Sicht sicherheitspolitisch mehr auf das Mittelmeer fokussieren als auf Russland. "Diese wäre konsistent mit ihrer ideologischen Ablehnung und Kritik von Migration", sagt er.

Führung von Deutschland gefragt

Für die EU würde das nichts Gutes bedeuten. "Der Wandel in Italien würde dann eine Spaltung Europas zwischen Osteuropäern, die ihre sicherheitspolitische Aufmerksamkeit auf Russland richten und Südeuropäern, die weitgehend auf Herausforderungen aus dem nicht-staatlichen Raum blicken, weiter fokussieren", malt er aus.

Für Deutschland würde das die Führungsanforderungen erhöhen. Und das, obwohl Deutschland in den letzten Jahren und Monaten aufgrund seiner Russlandpolitik in Osteuropa viel Vertrauen und Einfluss eingebüßt hat. "Viele Südeuropäer haben Deutschland außerdem seine harsch wahrgenommene Eurokrisenpolitik nicht ganz verziehen", ergänzt Fella.

Einheit des Westens fragil

Italien ist nicht das einzige EU-Land mit bedeutenden russlandaffinen Kräften. "Bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2022 haben über 41 Prozent für Marine Le Pen gestimmt – eine rechte Politikerin, die wie Salvini und Meloni in der Vergangenheit vor dem Ukrainekrieg nicht selten Bewunderung für Putin ausdrückte und beispielsweise die Krim-Annexion von 2014 als 'nicht illegal' einstufte", hebt Fella hervor.

Dass ein geeinter Westen aus dem Ukrainekrieg geht, hält er nicht für ausgemacht. "Vielmehr ist seine Fragmentierung weiter möglich", so Fella. Die Gasversorgung sei nur eine Vulnerabilität unter mehreren. "Umso mehr sind Politiken nötig, die die westlichen Gesellschaften auch im Inneren stärken und einen", zieht Fella ein Fazit.

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Über die Experten:
Roman Maruhn ist Politikwissenschaftler und forscht zur Europa-, Außen- und Innenpolitik Italiens, zum politischen System Italiens, zur Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in Italien sowie zum italienischen Parteiensystem, zur Europapolitik im Allgemeinen und zu Wirtschaft und Finanzen in der Europäischen Union.
Tobias Fella ist sicherheitspolitischer Referent des Hamburger Haus Rissen. Zuvor war er Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und der Stiftung Wissen und Politik (SWP). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Russische Außen- und Sicherheitspolitik, neue Militärtechnologien und der Formwandel des Krieges sowie soziale Medien und Desinformationskampagnen.

Verwendete Quellen:

  • Nau.ch: Gazprom liefert weniger Gas nach Italien
  • Nau.ch: Gazprom sagt mehr Gaslieferungen an Italien zu
  • Tagesschau.de: Italien nach Draghi-Rücktritt vor Neuwahlen
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