Der Chefkoordinator der deutschen Militärhilfe kehrt nach Gesprächen aus der Ukraine zurück. Er ist überzeugt, dass die militärische Führung in dem Land weiß, was sie tut.
Der militärische Chefkoordinator der deutschen Ukraine-Hilfe, Generalmajor Christian Freuding, kann den Entschluss der Ukrainer zur Offensive auf russisches Grenzgebiet "gut nachvollziehen". "Wo immer sich für den militärischen Führer die Gelegenheit zur Initiative bietet, muss er sie nutzen. Nach meinen Eindrücken und nach meinen Gesprächen ist den Ukrainern das Risiko, das sie mit dieser Operation eingehen, durchaus bewusst, aber es kann eben zu einer erheblichen Dynamik kommen, wenn diese Operation erfolgreich durchgeführt wird", sagte Freuding im Bundeswehr-Videoformat "Nachgefragt".
Freuding war in den vergangenen Tagen zu Gesprächen in der Ukraine. Der General ist Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium und auch Chef des Sonderstabs Ukraine. Er sagte, der Vormarsch sei ein "guter Indikator, dass die ukrainischen Streitkräfte weiter den Willen und die Fähigkeit haben, in diesem Krieg Erfolg zu haben und ihn auch zu gewinnen".
Freuding: Ukraine hat vier Brigaden für Operation im Einsatz
"Die Stärke der ukrainischen Streitkräfte für diese Angriffsoperation sind vier Brigaden. Das sind 4.000 bis 6.000 Soldatinnen und Soldaten", sagte Freuding. Von ukrainischem Gebiet aus würden sie von 2.000 bis 4.000 Männern und Frauen durch Logistik, aber auch durch Luftverteidigung unterstützt.
"Die Tiefe des genommenen Gebietes beträgt circa 30 Kilometer, die Breite circa 65 Kilometer", sagte Freuding. "Der Gesamtraum, in dem ukrainische Kräfte operieren - nicht kontrollieren, sondern operieren - schätzen wir auf circa 1.000 Quadratkilometer. Das ist deshalb interessant, weil das in etwa die Größenordnung ist, die die ukrainischen Streitkräfte verloren haben gegen die russischen Streitkräfte seit Jahresbeginn."
Die russischen Streitkräfte versuchten, mit Infanterie, mit gepanzerten Kräften und auch mit Spezialkräften gegen den ukrainischen Angriff vorzugehen. "Wir wissen, dass auch hier wieder massiv Artillerie eingesetzt wurde und auch Luftnahunterstützung. Bisher war das allerdings noch nicht erfolgreich", sagte Freuding.
Ukrainer hatten gute Aufklärung und trafen auf schwachen Gegner
Die Ukrainer hätten ihren Vorstoß vorbereitet und "ein Fenster der Gelegenheit" genutzt. Sie hätten sehr gute Aufklärungsergebnisse gehabt, eine Truppenmassierung schlecht ausgebildeter, russischer Reservekräfte erkannt und für einen Angriff günstiges Gelände genutzt. "Wir gehen davon aus, dass die Ukrainer circa eine hohe dreistellige, wenn nicht sogar eine vierstellige Zahl an Kriegsgefangen gemacht haben", sagte Freuding.
Die Ukraine verfolgt nach seiner Einschätzung mehrere Ziele darunter "Entlastung". "Die ukrainische Verteidigung im Donbass ist ja unter ungeheurem Druck. Das ist also ein gezielter Entlastungsangriff", sagte Freuding. Es gebe aber auch psychologische Effekte, wenn der Krieg ins russische Kernland getragen und der eigenen Bevölkerung die Fähigkeit zur Offensive gezeigt werden könne. Zudem könne eingenommenes Gebiet künftig politisches Faustpfand sein.
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Gegenangriffe werden offenkundig vorbereitet
Erste versuchte Gegenangriffe hatten die Ukrainer vorhergesehen und die eingesetzten russischen Kräfte "bereits im Anmarsch und der Annäherung zerschlagen können". Soweit zu erkennen sei, verlege Russland nun für einen Gegenangriff bisher nicht an den Kämpfen beteiligte Kräfte aus anderen Regionen in das Gebiet.
Weiter gebe es die intensivsten Kampfhandlungen im Donbass. Der General sagte: "Es ist auch richtig, dass sowohl auf ukrainischer Seite als auch auf russischer Seite derzeit für das, was hier oben passiert, keine Kräfte aus dem zentralen Kampfgeschehen im Donbas abgezogen werden. Dort ist unverändert der Schwerpunkt. Dort wird auch am meisten geschossen und gestorben." © dpa
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