Dass es so nicht mehr weitergehen kann, ist für die SPD klar. Ein Ausscheiden aus der Großen Koalition soll aber auch vermieden werden. Folgen die Delegierten des Parteitags dem Drahtseilakt?

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Die Nervosität steht manchen in der SPD ins Gesicht geschrieben. Die designierte Parteichefin Saskia Esken, die den Regierungsbetrieb mit Bedingungen für eine Weiterführung der Koalition in Atem hielt, geht kurz vor halb neun an diesem eiskalten Morgen wortlos ins Willy-Brandt-Haus. Der sonst so eloquente Juso-Chef Kevin Kühnert eilt ein paar Minuten später hinterher, das Handy wie ein Schutzschild vor Reporterfragen ans Ohr gepresst.

Olaf Scholz, amtierender Finanzminister und großer Verlierer beim Mitgliederentscheid um den Parteivorsitz, rauscht eine halbe Stunde später in seiner Dienstlimousine in die Tiefgarage. Die Frage des Tages: Bekommt die durchgeschüttelte SPD eine gemeinsame Linie für die Koalition hin, hinter der sich von Scholz bis hin zu Esken und Kühnert alle versammeln können?

"Es gibt noch einiges zu machen"

Esken und ihr designierter Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans hatten in den wenigen Tagen seit ihrem Sieg vor allem durch das aufmerken lassen, was sie nicht gesagt haben. So war fast gar nicht mehr davon die Rede, dass man der Partei einen Ausstieg aus der GroKo empfehlen werde, wenn die Union dies oder jenes nicht mitmache. Nun klingt alles recht gemäßigt.

Oder, wie es der nordrhein-westfälische SPD-Chef Sebastian Hartmann beim Reingehen in die Parteizentrale formuliert: "Es gibt noch einiges zu machen, was ohnehin im Koalitionsvertrag noch nicht abgearbeitet ist. Weiteres wird in der aktuellen Lage dazukommen."

Zu Erfolgen verdammt

Klimaschutz, schwarze Null, staatliche Milliardeninvestitionen - was will die SPD unter Esken/Walter-Borjans dem widerspenstigen Koalitionspartner abtrotzen? Das neue, Groko-kritische Spitzenduo wird Erfolge im Sinne ihrer linken Ziele vorweisen müssen, um seine Fans nicht zu enttäuschen. Entsprechend intensiv beugt sich das erweiterte Präsidium nun über die Formulierungen - darin sind auch Scholz, die anderen Minister, die Fraktionsführung. Das Establishment will nur Forderungen zulassen, mit denen die SPD weiterregieren und doch eine pointierte Rolle in der Koalition finden kann.

Kein Wunder, dass auf diese Weise zunächst noch kein Antrag für den am Freitag beginnenden Parteitag fertig wird. Aber es gibt einen Entwurf als Grundlage - und eine Linie zeichnet sich nach Teilnehmerangaben ab. Beispiel "Schwarze Null": Die Delegierten sollen keine schnelle Abkehr vom ausgeglichenen Bundeshaushalt fordern - für Scholz könnte das auch ein Rücktrittsgrund sein. Doch die Forderung nach neuen staatlichen Milliardeninvestitionen soll es schon geben, heißt es.

"Wir machen kein Provokationspapier", sagt ein Teilnehmer der Sitzung. Eine wichtige Rolle soll auch spielen, dass die SPD eine große Verantwortung auf Deutschland zukommen sieht - durch die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020. Viele bei den Sozialdemokraten wollen da nicht vom Rand aufs Spielfeld gucken.

Besonnenheit und Zusammenhalt

Parteivize Ralf Stegner zeigt sich am Abend "zuversichtlich", dass der Parteitag eine "gute inhaltliche Grundlage" für Verhandlungen mit der Union legen wird. Achim Post, Vize-Chef der Bundestagsfraktion, meint: "Besonnenheit und Zusammenhalt sollten jetzt auch die Debatte in den nächsten Tagen prägen." Dann sei er optimistisch, dass vom Parteitag ein Signal des Aufbruchs für die SPD ausgeht - ebenso wie ein Signal der Verantwortung für das Land.

Doch werden die Delegierten einem eher staatstragenden Kurs tatsächlich folgen? Und wie finden das die 114.995 SPD-Mitglieder, die bei der Stichwahl gegen Scholz und seine Teampartnerin Klara Geywitz, gegen den Regierungskurs und für die Groko-Kritiker Esken und Walter-Borjans gestimmt haben? Eine besondere Rolle könnte nun erneut auf Juso-Chef Kühnert zukommen, der durch seine Unterstützung entscheidend zum Sieg des Duos beigetragen hatte. Mit der neuen Parteispitze sowie Kühnerts Kandidatur für einen Vizeposten könnten die Anhänger eines Linkskurses der SPD die Weichen in ihrer Richtung gelegt sehen. (sg/dpa)

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