Ein Gefühl, das Boris Johnson fast nicht mehr kannte: Am Dienstagabend gewann der britische Premierminister endlich mal wieder eine Abstimmung im Parlament. Am 12. Dezember gibt es nun Neuwahlen. Bleibt die Frage: Und jetzt?

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Man kann Boris Johnson vieles vorwerfen, aber nicht, dass er keinen Kampfgeist hätte. Nachdem der britische Premierminister am Montagabend die nächste Schlappe im Unterhaus hatte hinnehmen müssen - das Parlament lehnte auch seinen dritten Antrag auf Auflösung des Unterhauses und vorzeitige Neuwahlen ab -, kündigte der Regierungschef ohne Mehrheit direkt den nächsten Versuch an.

Und siehe da: Am Dienstagabend hatte Johnson tatsächlich eine Mehrheit für sein Gesetz über Neuwahlen am 12. Dezember. In Großbritannien macht schon das Wort von der "Brexmas"-Wahl die Runde, also die Verbindung aus Brexit und Christmas (Weihnachten).

Wie hat Johnson das geschafft? Was bedeutet das nun für das Vereinigte Königreich? Wer hat die besten Aussichten auf Erfolg an der Urne? Und kommt dann der Brexit im Januar? Ein Überblick:

Brexit: Was ist am Dienstag eigentlich im House of Commons passiert?

Premierminister Boris Johnson hat dem Unterhaus ein Gesetz über Neuwahlen am 12. Dezember zur Abstimmung vorgelegt. Während eine Auflösung des Parlaments am Montagabend noch an der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit scheiterte, brauchte Johnson für das Gesetz über Neuwahlen nur eine einfache Mehrheit.

Nachdem es ihm gelungen war, die oppositionelle Schottische Nationalpartei (SNP) und die Liberaldemokraten (Lib Dems) auf seine Seite zu ziehen - Johnson versprach, seinen umstrittenen Brexit-Deal bis zur Wahl nicht mehr zur Abstimmung im Parlament vorzulegen -, lenkte mit Labour schließlich auch die größte Oppositionspartei ein. Am Ende stimmten 438 der insgesamt 650 Abgeordneten für Johnsons Gesetz.

Erfolg oder Pyrrhussieg für Johnson?

Nach einer schier endlosen Reihe von verlorenen Abstimmungen hat der Premier mit dem Neuwahl-Gesetz zumindest formell einen Erfolg errungen. Doch die Zeit bis zu den Wahlen ist knapp - und dass Johnsons Tory-Partei, die aktuell in den Umfragen mit 37 Prozent klar vor Labour (24 Prozent) führt, am Ende auch tatsächlich vorne liegt, ist in diesen turbulenten Wochen und Monaten auf der Insel alles andere als gesichert.

Johnson sah in den Neuwahlen die einzige Chance, den Brexit auf seine Art und Weise durchzuziehen, nachdem er zunächst zähneknirschend hatte hinnehmen müssen, dass der von ihm "unter allen Umständen" angepeilte EU-Austrittstermin zum 31. Oktober nicht mehr zu halten war.

Die rund 47 Millionen wahlberechtigten Briten wissen, welcher Brexit-Deal sie erwartet, sollten sie Johnson und den Torys ihre Stimme geben. Ob sich dafür tatsächlich eine Mehrheit findet, bleibt abzuwarten.

Vor allem Nigel Farage, der Chef der Brexit-Partei, könnte Johnson zahlreiche Stimmen nehmen, wenn es ihm gelingt, den Premier als Verräter an der Brexit-Idee darzustellen. Johnson hatte vollmundig angekündigt, auf jeden Fall zum 31. Oktober aus der EU auszutreten.

Lieber wolle er "tot im Graben" liegen, als eine weitere Verlängerung bei der EU zu beantragen. Das musste er aber bekanntlich doch tun; Hardcore-Brexit-Vertreter könnten ihm das übel nehmen und stattdessen Farage wählen.

Wer profitiert sonst von den Neuwahlen?

2017 wurde das Unterhaus zuletzt gewählt, damals gewannen die Torys mit 42,4 Prozent knapp vor Labour (40 Prozent). Die Lib Dems kamen auf 7,4, die SNP auf 3 Prozent. Diese Mehrheitsverhältnisse werden Ende Dezember wohl ziemlich anders aussehen.

Die kleineren Oppositionsparteien, SNP und Lib Dems, sind grundsätzlich für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU. Sie erhoffen sich Zuspruch aus dem - ihrer Ansicht nach gewachsenen - Lager der "Remainer", also der Leute, die doch in der EU bleiben wollen.

Sie glauben, dass viele Wähler ihre Entscheidung für den Brexit beim Referendum 2016 inzwischen bereuen und rechnen sich bei Neuwahlen größere Stimmanteile als bisher aus.

Aktuelle Umfragen sehen die Lib Dems bei 17 und die SNP bei 4 Prozent. Die Konservativen liegen derzeit bei 37, Labour bei 24 und die Brexit-Partei bei 11 Prozent. Der führende Wahlexperte des Königreichs, Sir John Curtice erwartet, dass nach der Wahl im Dezember mehr als 100 Abgeordnete im Unterhaus sitzen könnten, die weder den Torys noch Labour angehören. Beide Parteien hätten damit keine ausreichend große Mehrheit - ohne Koalitionen könnte eine erneute Minderheitsregierung drohen.

Sind die Neuwahlen eine Chance für Labour?

Das größte Problem der Labour-Partei sitzt an ihrer Spitze. Jeremy Corbyn ist auf der Insel generell eine streitbare Figur und selbst in den eigenen Reihen alles andere als unumstritten. Wiederkehrende Antisemitismusvorwürfe und eine angeblich fehlende Alternative zur bisherigen Blockadepolitik kosten die Arbeiterpartei viel Zustimmung.

Dementsprechend hatte sich Corbyn bis zuletzt gegen Neuwahlen gewehrt - weil er wusste, dass das Ergebnis von 2017 nur schwer zu wiederholen sein würde. Erst am Dienstagmorgen, als sich ein Bündnis von Torys, SNP und Lib Dems abzeichnete und der Brexit erneut verschoben wurde, entschied sich Labour, auch auf Neuwahlkurs umzuschwenken - um am Ende nicht als Totalverweigerer dazustehen.

Doch für die angeschlagene Partei sind die Neuwahlen tatsächlich auch eine Chance. Erstens ist Corbyn ein hervorragender Wahlkämpfer, der bereits 2017 ein kleines Wunder vollbrachte, als er aus zu Beginn 25 Prozent Zustimmung einen Wahlerfolg von 40 Prozent machte. Wenn im - recht kurzen - jetzt anstehenden Wahlkampf statt des Brexit die lange vernachlässigten Themen Soziales, Arbeit, Erziehung und Gesundheit in den Vordergrund treten, würde das Labour in die Karten spielen.

Was wird jetzt aus dem Brexit?

Die EU-Staaten haben die Verschiebung des Brexit bis Ende Januar endgültig beschlossen. Der scheidende EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte via Twitter: "Es könnte die letzte sein." Zudem forderte er die Briten auf, "das Beste aus dieser Zeit" zu machen. Ob das gelingt, hängt vom Wahlausgang ab.

Bei einer Mehrheit für die Konservativen würde wohl alles auf den von Johnson zuletzt ausgehandelten Deal hinauslaufen. Labour ist innerparteilich unentschlossen, EU-Skeptiker und -Freunde halten sich die Waage. Im Falle eines Wahlsiegs möchte Labour wohl ein neues, weicheres Abkommen mit der EU aushandeln und per Referendum das Volk darüber entscheiden lassen.

Sollte die Prognose von Sir Curtice zutreffen, dass die kleineren Parteien beträchtliche Zuwächse verzeichnen werden, wäre eine klare Tory-Mehrheit unmöglich und damit der Brexit erst einmal gestoppt. Labour könnte sich mit den kleineren Parteien verbünden - sie alle eint die Abneigung gegenüber Johnson und Torys - und so eine weitere konservative Regierung verhindern. In diesem Fall hieße es dann: Alles auf Anfang!

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Verwendete Quellen:

  • Politico.eu: "United Kingdom - National parliament voting intention"
  • Spiegel.de: "Die Brexit-Bescherung"
  • Zeit.de: "Jeremy Corbyn wird munter"
John Bercow

Goodbye, John Bercow!

Seine Leitung brachte dem ''Speaker of the House'' viel Sympathie, aber auch Kritik ein. Durch John Bercow hat der Streit um den Brexit deutlich an Unterhaltungswert gewonnen. Sein Nachfolger wird es schwer haben, aus seinem Schatten zu treten.
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