Am Donnerstag (4.) wählt Großbritannien ein neues Unterhaus. Schon jetzt zeichnet sich deutlich ab: Die Konservativen werden ihren Platz als Regierungspartei räumen müssen.

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Was der Brexit damit zu tun hat, wo Großbritannien vier Jahre nach dem EU-Austritt steht und warum der Brexit im Wahlkampf ein "Elefant im Raum" war, erklärt Politikwissenschaftler Stefan Schieren.

Die Briten wollen eine Veränderung: Kurz vor der Wahl zum britischen Unterhaus zeichnet sich in Großbritannien ein Erdrutschsieg für die Labour-Party ab. In aktuellen Umfragen kommen die regierenden Tories nur auf 19 Prozent der Wählerstimmen, Labour hingegen werden über 40 Prozent der Stimmen prognostiziert. Zwischenzeitlich wurden die Konservativen sogar von den Rechtspopulisten um Nigel Farage auf Platz 3 verdrängt.

Eine klare Führung, die wohl kaum mehr einzuholen ist. Politikwissenschaftler Stefan Schieren an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ist sich sicher, dass das auch etwas mit dem Brexit zu tun hat, der inzwischen vier Jahre zurückliegt. "Boris Johnson hat 2019 nicht nur versprochen, den Brexit über die Bühne zu bringen, sondern auch einen wirtschaftlichen Aufschwung in die benachteiligten Regionen zu bringen. Dieses Versprechen hat er nicht gehalten."

Die enttäuschten Menschen würden jetzt zur Labour-Party zurückkehren, in der Hoffnung, dass diese ihre Versprechen einlösen wird.

Das britische System in Bewegung geraten

Aus Schierens Sicht könnte die Wahl am 4. Juli einen Wendepunkt darstellen und möglicherweise eine neue Labour-Ära einleiten. "Für das Parteien-System und für das gesamtpolitische System wird entscheidend sein, ob es erneut zu einer Enttäuschung kommt. Dann könnte es zu Turbulenzen kommen", sagt er. Der Erfolg der Reform-Party um Nigel Farage sei ein erstes Zeichen dafür, dass einiges in Bewegung geraten sei.

"Der Brexit hat zu einer Neuorientierung der politischen Ausrichtung geführt. Der Brexit war 2019 die Hauptkonfliktlinie, hinter den traditionelle Konfliktlinien zurückgetreten sind", analysiert er. Parteien sowie Wählerinnen und Wähler hätten traditionelle Konfliktlinien aufgegeben und dadurch gesehen, dass sie auch andere Optionen haben. "Deswegen hat der Brexit möglicherweise langfristige Auswirkungen auf das gesamte Herrschaftssystem", sagt der Großbritannien-Kenner.

Brexit als "Elefant im Raum"

Schieren sagt weiter: "Der Brexit ist während des Wahlkampfs ein Elefant im Raum gewesen, den keiner benennt." Die großen Parteien, die potenziell den Premierminister stellen, hätten alles getan, um das Thema zu vermeiden. Im Vordergrund standen vielmehr Konjunktur, Finanzen, das malade Gesundheitssystem und öffentliche Dienstleistungen insgesamt. "Schon jetzt prophezeien Beobachter aber, dass das Thema natürlich nicht immer gemieden werden kann. Deswegen wird es sicherlich in den nächsten Jahren wieder auf die Agenda kommen."

Interessant werde dann sein, welche Kämpfe das Thema in Großbritannien hervorrufen werde. Schieren hat bei der Diskussion der Zukunft noch eine Frage im Kopf: "Unter welchen Bedingungen würde ein Beitritt, wenn ihn denn tatsächlich eine Regierung verfolgen würde, erfolgen?"

Ein Szenario, das aus Sicht von Schieren jedoch erst in einem Jahrzehnt realistisch ist. Unter einem Premierminister Keir Starmer von der Labour-Party könnte es zumindest zu einer vorsichtigen Wiederannäherung kommen. Was der jetzige Oppositionsführer tunlichst vermeiden will: Alte Stammwähler abschrecken, die für den Brexit gestimmt haben.

Allerdings hat Starmer ein Veterinärabkommen mit Brüssel angekündigt, um den Handel von Agrarprodukten wieder zu erleichtern. Intensivieren will die Labour-Party außerdem die Beziehungen mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Gemischte Bilanz

Derzeit fällt die Bilanz in Großbritannien vier Jahre nach dem Brexit gemischt aus. "Es gibt einige Dinge, die unzweifelhaft schwieriger geworden sind – vor allem der grenzüberschreitende Handel und der Personenverkehr", sagt Schieren. Es gäbe viele Bereiche, in denen Großbritannien die Arbeitsplätze nicht besetzen könne, weil Mitarbeiter fehlen, die zuvor aus Osteuropa kamen.

Auch Lieferketten sind noch immer unterbrochen, teilweise aber auch als Nachwehen der Coronapandemie. Die Kultur- und Kunstszene stöhnt darüber, wie kompliziert Gastauftritte mittlerweile sind.

"Mit dem Abkommen, welches Premierminister Rishi Sunak mit der EU ausgehandelt hat, ist es jedoch insgesamt zu erträglichen und gedeihlichen Verhältnissen gekommen", erklärt der Experte. Man habe nicht die wirtschaftlich oder politisch schweren Verwerfungen gesehen, die bedrohlich an die Wand gemalt worden seien.

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Beim Wachstum und der Inflation sei Großbritannien zwar kein weltweiter Spitzenreiter, liege aber auch nicht weit ab von den anderen europäischen Ländern. Im Mai lag die Inflationsrate in Großbritannien bei rund 2 Prozent und damit etwas besser als in Deutschland (2,4 Prozent).

"Insgesamt kann man nicht sagen, dass der Brexit ein mächtiger Schlag ins Kontor war. Aber ganz unbemerkt ist er natürlich auch nicht geblieben", sagt der Politikwissenschaftler. So klar, wie von absoluten Europagegnern gewünscht, seien die Verhältnisse bis heute aber noch nicht getrennt.

Chancen nicht genutzt

"Als positiv wird wahrgenommen, dass man nach Ende der Übergangsperiode der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht mehr unterworfen sein wird und im Abschluss von Zoll- und Handelsabkommen völlig frei ist. Die versprochenen Handelsabkommen sind aber bisher nicht so schnell gekommen wie versprochen und angekündigt", weiß Schieren. Jedes Handelsabkommen sei eine mühselige Angelegenheit.

Die rechtlichen Freiräume, die man sich vom Brexit versprochen habe, hätten sich noch nicht in der erhofften Weise nutzen lassen: "Noch gibt es nicht die Fülle an Handelsabkommen, die den Traum von Global Britain haben wahr werden lassen", sagt Schieren.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Stefan Schieren ist Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Vorsitzender der Prinz-Albert-Gesellschaft, die sich für die Pflege der deutsch-britischen Beziehungen einsetzt.

Verwendete Quellen

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