Der Nahostkonflikt wird derzeit auch an deutschen Universitäten ausgetragen. Den Ton geben israelfeindliche Gruppen an und viele jüdische Studierende fühlen sich bedroht. Ein Gespräch mit Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, über Antisemitismus auf dem Campus und fehlende Solidarität.

Ein Interview

Vor zwei Wochen landete der jüdische Student Lahav Shapira mit mehreren Knochenbrüchen im Gesicht im Krankenhaus. Er war zuvor an Gegenprotesten zu pro-palästinensischen Kundgebungen an der Freien Universität Berlin beteiligt gewesen. Ein Kommilitone erkannte Shapira später auf der Straße – und schlug zu.

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"Der 7. Oktober ist ein Einschnitt, der vorher unvorstellbar war", sagt Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, im Interview mit unserer Redaktion. Seit dem Massaker der Hamas in Israel mit 1.200 Toten sei auch für Jüdinnen und Juden an deutschen Universitäten nichts mehr so wie vorher.

Frau Veiler, am 7. Oktober ermordete die Hamas 1.200 Menschen in Israel und seitdem herrscht Krieg in Nahost. Wie hat sich in der Folge das Leben jüdischer Studierender in Deutschland verändert?

Hanna Veiler: Schon lange zuvor haben jüdische Studierende regelmäßig über Antisemitismus an deutschen Hochschulen berichtet. Dennoch ist der 7. Oktober ein Einschnitt, der vorher unvorstellbar war. Jüdische Studierende haben die ersten Wochen und Monate nach dem Hamas-Massaker das Campusleben teilweise komplett gemieden, weil sehr schnell Gruppierungen an den Unis aktiv wurden, die die Ereignisse vom 7. Oktober relativiert und die Hamas als legitimen Widerstand gefeiert haben. Jüdisches Campusleben ist seitdem mehr als jemals zuvor durch antisemitische Vorfälle und ein Unsicherheitsgefühl geprägt.

Wieso betrifft jüdische Studierende in Deutschland so sehr, was in Israel passiert?

Israel ist der einzige mehrheitlich jüdische Staat der Welt. Viele von uns haben Familie in Israel und waren selbst schon oft dort. Am 7. Oktober fand der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Schoa statt. Viele Geschichten, die wir über dieses Massaker hören, erinnern uns daran, was unsere eigenen Vorfahren durch die Nationalsozialisten erleiden mussten. Wir machen immer wieder die Erfahrung: Was in Israel geschieht, hat auch Auswirkungen auf die jüdischen Gemeinschaften in anderen Ländern.

Anfang Februar ist ein jüdischer Student der Freien Universität Berlin von einem Kommilitonen schwer verletzt worden. Der Täter hat jetzt drei Monate Hausverbot an der Uni. Was halten Sie von dieser Maßnahme?

Dieses Hausverbot ist der erste Schritt. Es kommt aber zu spät, was der Tatsache geschuldet ist, dass es an den Hochschulen kaum Mechanismen gibt, mit denen man auf antisemitische Vorfälle dieser Art reagieren kann. An vielen Unis herrscht die Vorstellung, dass es in der eigenen Institution keinen Antisemitismus geben kann. Zeigt er sich trotzdem, ist man ratlos.

Hanna Veiler: "An den Unis ist niemand für die Sicherheit jüdischer Studierender zuständig"

Was fordern Sie und die Jüdische Studierendenunion jetzt von den Hochschulen und der Bildungspolitik?

Im Berliner Hochschulgesetz wurde 2021 die Möglichkeit abgeschafft, Antisemiten zu exmatrikulieren. Wir fordern, dass das rückgängig gemacht wird. Es ist nicht hinnehmbar, dass jüdische Studierende im Hörsaal neben antisemitischen Straftätern sitzen müssen.

Was noch?

An den Unis gibt es niemanden, der wirklich für die Sicherheit jüdischer Studierender zuständig ist. Das muss sich ändern. Wir fordern zudem nicht nur die Übernahme der Antisemitismus-Definition der "International Holocaust Remembrance Alliance", sondern auch die Etablierung von Sanktionsmechanismen bei Verstößen durch Universitätsangehörige. Außerdem muss das Thema Antisemitismus in bestimmten Studiengängen – etwa beim Jura- oder Lehramtsstudium – verpflichtend behandelt werden. Generell braucht es an den Hochschulen mehr Forschung über Antisemitismus.

Der Nahostkonflikt scheint an den Universitäten oft zu besonders scharf geführten Auseinandersetzungen zu führen. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Viele junge Menschen sind sehr politisiert und das ist auch gut so. Sie interessieren sich für Politik und wollen sich für Menschenrechte einsetzen. Leider wird dabei der Nahostkonflikt oft viel zu verkürzt betrachtet. Dabei spielt die postkoloniale Theorie, die sich in Deutschland gerade unter linken Studierenden großer Beliebtheit erfreut, eine wichtige Rolle. Sie hat viele gute Seiten, aber auch die Tendenz zu einem Schwarz-weiß-Denken, in dem es nur Gut und Böse, Unterdrückte und Unterdrücker gibt. Gemäß dieser Theorie sind die Unterdrückten die Palästinenser und die Unterdrücker die Israelis. Die Grenze zum Antisemitismus ist dabei fließend. Hinzu kommt die unter jungen Menschen große Verbreitung von Social Media, in denen sich gerade antisemitische Verschwörungserzählungen und Narrative ungehindert ausbreiten können.

Auch viele jüdische Studierende kommen mit einem eher linken Weltbild und viel Idealismus an die Universitäten. Wie groß ist für sie jetzt die Enttäuschung?

Sehr groß. Ich und andere eher linksgerichtete jüdische Studierende, die schon länger an der Uni sind, haben diese Erfahrung bereits im Mai 2021 während des letzten Gaza-Krieges gemacht. Damals kam es ebenfalls zu viel Antisemitismus auf dem Campus und wir haben uns aus vielen linken Räumen zurückgezogen. Das hat jetzt den Vorteil, dass man nicht mehr mitansehen muss, wie dort Terror gegen Juden verharmlost oder gar verherrlicht wird. Gleichzeitig kehrt ein Gefühl von politischer Heimatlosigkeit und Einsamkeit ein, weil wir sehen, dass viele nicht an unserer Seite stehen und wir offenkundig nicht für dieselben Sachen kämpfen. Wir sind froh, dass gerade so viele Menschen gegen rechts auf die Straße gehen, und gleichzeitig enttäuscht: Nach dem 7. Oktober war nur ein Bruchteil von ihnen bereit gegen Antisemitismus zu demonstrieren.

"Wir als jüdische Gemeinschaft halten gerade sehr zusammen."

Erfahren jüdische Studierende auch Solidarität an den Hochschulen?

Solidarität gibt es auf jeden Fall. Wir sind im kontinuierlichen Austausch mit unterschiedlichen Politikerinnen und Politikern, den Jungparteien und Hochschulgruppen. Es gibt sehr viele Menschen, die uns kontaktieren und uns fragen, wie es uns geht und wie sie uns unterstützen können. Was aber fehlt, ist der Aufschrei der Gesamtgesellschaft.

Sie sind aktuell als jüdische Aktivistin in den Medien sehr präsent, was zahlreiche Anfeindungen nach sich zieht. Was gibt Ihnen die Kraft weiterzumachen?

Ich habe nicht das Gefühl, dass wir gerade eine Wahl haben. Aufgeben ist einfach keine Option. Die meisten von uns sind in Deutschland geboren und groß geworden. Die meisten von uns haben ihre Zukunft in diesem Land geplant. Deshalb müssen wir für die Demokratie und die Menschenrechte und unseren Platz in Deutschland kämpfen. Wir als jüdische Gemeinschaft halten gerade so sehr zusammen, wie viele von uns das wahrscheinlich noch nie erlebt haben. Es ist dieser Zusammenhalt, der uns zurzeit die meiste Kraft gibt. Wir wissen, wir sind nicht allein.

Über die Gesprächspartnerin

  • Hanna Veiler ist seit 2018 bei der Jüdischen Studierendenunion Deutschland aktiv. Seit 2023 ist sie deren Präsidentin. Veiler wuchs in Baden-Baden auf und studierte Kunstgeschichte in Tübingen. Heute lebt sie in Berlin und studiert an der University for Peace der Vereinten Nationen. Veiler schreibt regelmäßig Gastkommentare bei "Zeit Online", der "taz" oder der "Jüdischen Allgemeinen".
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