Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat sich ein Stück weit dem Druck der Straße gebeugt und das umstrittene Auslieferungsgesetz zurückgenommen. Den Demonstranten dürfte das jedoch nicht weit genug gehen. Zu Angela Merkels Reise nach Peking ist der Konflikt weiterhin virulent.

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Nach monatelangen Protesten hat Hongkongs Regierung den umstrittenen Entwurf für ein Gesetz für Auslieferungen nach China komplett zurückgezogen. Das teilte Regierungschefin Carrie Lam am Mittwoch nach einem Treffen mit Abgeordneten mit.

Mit dem formellen Rückzug erfüllt Lam eine Hauptforderung der Demonstranten und zeigt Entgegenkommen. Der wegen des massiven Widerstands bereits auf Eis liegende Gesetzentwurf war der Auslöser für die Demonstrationen in der chinesischen Sonderverwaltungsregion gewesen.

Das Gesetz hätte Auslieferungen von verdächtigten Personen nach China erlaubt, obwohl dessen Justizsystem nicht unabhängig ist und häufig als Werkzeug politischer Verfolgung benutzt wird. Auch warnten Kritiker vor Folter.

Die Proteste gegen das Gesetz hatten Ende April begonnen. Mitte Juni legte Lam den Entwurf auf Eis, erklärte ihn später für "gestorben", zog ihn aber nicht komplett zurück.

Hongkong: Demonstranten haben weitere Forderungen

In ersten Reaktionen auf Lams Entscheidung äußerten Aktivisten ihre Erleichterung, machten aber deutlich, dass ihnen der Rückzug nicht ausreicht.

Die weiteren vier Forderungen der Demonstranten sind der Rücktritt der Regierungschefin, eine unabhängige Untersuchung übermäßiger Polizeigewalt, die Freilassung von Festgenommenen und eine Rücknahme des Vorwurfs des "Aufruhrs". Viele Demonstranten fordern darüberhinaus noch politische Reformen und wirklich freie Wahlen.

"Wenn sie die Sprechchöre der Leute in den Märschen hören, dann sind es die fünf Forderungen und nichts weniger", sagte Bonnie Leung von der Civil Human Rights Front, die große Demonstrationen organisiert hatte.

Vielen dürfte der Rückzug des Gesetzes nicht weit genug gehen, wenn es nicht eine Untersuchung der Polizeigewalt gebe. "Ohne eine unabhängige Untersuchung kann unsere Gesellschaft einfach nicht voranschreiten, weil wir jetzt sehen, dass die Polizei jeden Tag wahllos Leute verprügelt", sagte Leung.

Protestführer wenden sich an Angela Merkel

Hongkongs Protestführer baten Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor ihrer China-Reise diese Woche um ein Treffen. In einem offenen Brief an Merkel, der der "Bild"-Zeitung vorliegt, warnt der bekannte Aktivist Joshua Wong vor einer Eskalation. "Uns steht eine diktatorische Macht gegenüber, die keine freiheitlichen Grundrechte zulässt und immer mehr gewalttätige Maßnahmen anwendet, mit Tendenz zu einem neuen Massaker wie am Tian'anmen-Platz." 1989 schlugen Soldaten am Platz des Himmlischen Friedens in Peking die friedliche Demokratiebewegung blutig nieder.

Die andauernden Proteste haben Hongkong in seine bislang schwerste Krise gestürzt. Zuletzt wurde 13 Wochenenden in Folge demonstriert - zum Teil mit Hunderttausenden bis zu mehr als einer Million Teilnehmern.

Die Proteste endeten häufig in Zusammenstößen zwischen radikalen Demonstranten und der Polizei. Die sieben Millionen Hongkonger befürchten steigenden Einfluss der chinesischen Regierung auf Hongkong und eine Beschneidung ihrer Freiheitsrechte.

Abgeordnete: Merkel muss Tacheles reden

In dem offenen Brief sprechen die Protestführer Merkel auf ihre DDR-Vergangenheit an. Da sie aus erster Hand Erfahrungen mit diktatorischen Regimen habe, könne sie sich gut in die Situation der Protestler hineinversetzen. Merkel solle deshalb die Situation in Hongkong bei ihren Gesprächen am Freitag in Peking ansprechen. Die Kanzlerin wird am Donnerstag nach China fliegen und am Freitagmorgen mit Regierungschef Li Keqiang zusammenkommen.

Auch in Deutschland werden Rufe laut, dass Merkel mäßigend auf Peking einwirken soll. Der außenpolitische Sprecher der SPD, Nils Schmid, sagte der "Welt", Merkel müsse klarmachen, dass eine gewaltsame Niederschlagung nicht akzeptabel sei.

Jürgen Hardt (CDU), Außenpolitiker der Unionsfraktion, sagte der Zeitung, dass Merkel die in verbrieften Freiheitsrechte auf eine Art ansprechen werde, "die den Chinesen eine gesichtswahrende, friedliche Reaktion ermöglicht".

Die Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte in der "Rheinischen Post", dass Merkel klarmachen müsse, dass Chinas Druck auf Hongkong Folgen für die wirtschaftliche Kooperation mit Deutschland habe.

Der Vorsitzende des Petitionsausschusses, Marian Wendt (CDU), sagte, Peking müsse sich zu seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen bekennen, wonach für Hongkong "ein Land, zwei Systeme" gelte: "Wenn wir dies nicht einfordern, machen wir nur noch Kotau vor Peking."

Neue Zwischenfälle

Die frühere britische Kronkolonie wird seit der Rückgabe 1997 an China in ihrem eigenen Territorium mit einem eigenen Grundgesetz nach dem Prinzip "ein Land, zwei Systeme" autonom regiert. Die Hongkonger stehen unter Chinas Souveränität, genießen aber - anders als die Menschen in der kommunistischen Volksrepublik - mehr Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Nach den schweren Ausschreitungen am Wochenende in Hongkong kam es in der Nacht zum Mittwoch zu neuen Zwischenfällen. Die Polizei räumte gegen Mitternacht eine Gruppe von Demonstranten von einem Platz vor der Polizeistation im Stadtviertel Mong Kok, wie der Sender RTHK berichtete.

In der U-Bahn-Station Prince Edward gab es eine Festnahme. Bei beiden Polizeieinsätzen wurde Pfefferspray eingesetzt. Bei den Protesten und Ausschreitungen sind insgesamt bereits mehr als 1.100 Menschen festgenommen worden. (dpa/mcf)

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