Vor einem Jahr hat der Islamische Staat (IS) ein Kalifat ausgerufen. Eine internationale Allianz kämpft seitdem gegen die Terrormiliz, Gebiete werden bombardiert, Territorien verteidigt. Doch das Kalifat existiert - und wächst weiter. Wie sieht das Gebiet heute aus? Wie funktioniert das Leben im Kalifat? Und wie könnte die Terrormiliz besiegt werden?

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Nach der Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 wird "Isis" ("Islamischer Staat im Irak und in Syrien") zum "IS" ("Islamischer Staat"). Es zeugt von Größenwahn: Die sunnitischen Dschihadisten wollen unter Führung des Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi einen Gottesstaat errichten.

Spiegel-Reporter Christoph Reuter hat Einblick in die Strukturen des IS. Zur Recherche bereist er immer wieder Syrien und den Irak und hat das Buch "Die schwarze Macht - Der 'Islamische Staat' und die Strategen des Terrors" geschrieben. Darin erklärt er, wie das IS-Kalifat funktioniert.

Christoph Reuter ... über den Aufstieg des IS

Das Gebiet des Kalifats hat sich seit dem vergangenen Jahr deutlich verändert: "In Syrien hat der 'Islamische Staat' (IS) im Norden an die Kurden verloren, im Zentrum und im Süden allerdings dazugewonnen. Die Luftwaffe des Assad-Regimes spielte dabei eine unterstützende Rolle", so Reuter im Interview - weil sie stets die Rebellen bombardierten und den IS in den umkämpften Gebieten jedoch weitgehend verschonten.

Zudem beherrsche der IS laut Angaben des Leiters der Menschenrechtsbeobachter Rami Abel Rahman seit der Einnahme der Oasenstadt Palmyra im Mai rund 40 Prozent der Fläche von Syrien. Im Irak sei eine der wichtigsten Eroberungen durch den IS die Stadt Ramadi mit der dazu gehörenden Provinz Anbar, das größte Gouvernement im Irak, sagt Reuter unserem Portal. Trotzdem vermutet er, dass die Terrormiliz insgesamt flächenmäßig verloren haben dürfte: Vor allem im Zentrum des Irak, nördlich von Bagdad, sei der IS zurückgedrängt worden.

Bereits seit August 2014 fliegen die USA Angriffe im Nordirak. Frankreich hat sich der Allianz im September angeschlossen. Vor allem irakisches Militär und kurdische Kämpfer verteidigen sich gegen den IS - und feiern auch einige Erfolge. Das zeigt: Der "Islamische Staat" ist nicht unbesiegbar. In seinem Buch weist Reuter darauf hin, dass "weite Teile" des Kalifats schlichtweg nur "Wüste ohne Dörfer, Städte, Straßen, Flächen" seien. Da der IS die Wege um diese Flächen herum beherrsche, wäre es "verzerrend, sie nicht mitzuzählen", so Reuter weiter.

... über die Terrorherrschaft des IS nach innen

"Der IS versorgt sich im Wesentlichen selbst, indem er seine Untertanen bis aufs letzte ausplündert, weshalb er langfristig auf Expansion angewiesen ist", erklärt Reuter im Interview. Jede Stadt, jedes Dorf werde zunächst infiltriert, ausgeforscht und hermetisch überwacht. In seinem Buch schreibt Reuter: "Wer sich auflehnt, wird ausgelöscht. Wer auch nur in den Verdacht gerät, dass er sich auflehnen könnte, riskiert die Vernichtung. Es gibt keine Neutralität mehr und vor allem: Es gibt kein Entkommen." Konkurrierende Geheimdienstzellen würden die vollständige Kontrolle gewährleisten. Sie seien "der Schlüssel zur Überwachung und Beherrschung der Untertanen", so Reuter im Gespräch mit unserem Portal.

Von einem "Alltag" kann in den vom IS kontrollierten Dörfern und Städten dabei keine Rede sein. Reuter spricht von Lagern für Kindersoldaten, Hinrichtungen und absoluter Grausamkeit beim leisesten Verdacht auf Rebellion. Die Strom- und Nahrungsversorgung sei halbwegs gesichert, doch der Druck auf die Familien, die jungen Männer in den Kampf zu schicken, wachse.

"Nordkorea auf Arabisch" heißt ein Kapitel in Reuters Buch. Darin behandelt er Aussagen von Quellen, die das Leben im Kalifat am eigenen Leib erfahren: "Wer kann, bleibt zu Hause, aus den vielfältigsten Gründen. Etwa aus dem nachvollziehbaren Wunsch, nicht die erst erschossenen, dann gekreuzigten Opfer oder die Köpfe der Enthaupteten auf den Zaunspitzen im Zentrum sehen zu müssen", heißt es dort. Junge Männer blieben aus Angst vor Zwangsrekrutierungen zu Hause, junge Frauen aufgrund der zusehends aggressiver propagierten Kampagne, einen ausländischen Mann zu heiraten.

... über die Rolle des Islam im IS

Die Religion Islam fungiere als praktisches Instrument, "Untertanen in die Unterwerfung zu zwingen und sich qua selbsterklärter Rolle als Gottes Stellvertreter als unfehlbar auszugeben", so Reuter im Interview. Der Islam ist also nicht etwa, wie propagiert, "Ziel der IS-Führung", sondern vielmehr "Werkzeug".

Vor allem diene dieses Werkzeug neben der Unterdrückung dazu, Anhänger zu gewinnen. "Im Innersten der IS-Planung ist nichts Religiöses erkennbar", so Reuter. Das werde auch am absolut skrupellosen Wechsel taktischer Allianzen - selbst mit ideologischen Todfeinden - deutlich.

... über die Terrorgefahr für den Westen

Die Terrormiliz zieht in beispiellosem Ausmaß freiwillige Kämpfer aus aller Welt an: Das US-Terrorzentrum NCTC schätzte ihre Zahl im Februar 2015 auf rund 20.000. Wächst der IS unaufhaltsam weiter? Nicht unbedingt: "Es kann sein, dass er von Innen zerfällt", sagt Reuter unserem Portal. "Aber ob das geschieht, ist unklar." Militärisch könne der "Islamische Staat" aber ausschließlich von Innen, von den Sunniten, in deren Namen er herrschen will, zu Fall gebracht werden. Trotzdem könnten die Extremisten auch jederzeit wieder abtauchen, als gut vernetzte, aber unsichtbare Terrorgruppe - "jederzeit bereit, wieder aufzutauchen, wenn die Verhältnisse günstiger werden".

In den vergangenen Monaten erschüttern Anschläge immer wieder westliche Länder: Die Attacke auf ein jüdisches Museum in Brüssel, die Geiselnahme im Café Lindt in Sydney, "Charlie Hebdo" in Paris - und jetzt die Anschläge in Lyon und dem tunesischen Sousse. Diese Anschläge seien "nicht die Anschläge des IS", so Reuter. "Es hatte keines Trainings in den IS-Lagern bedurft, um die Franzosen zum Terror zu bewegen", erklärt Reuter in seinem Buch. "Die echte wie die virtuelle Existenz des IS scheinen überall auf der Welt einen enormen Einfluss auf die Zukurzgekommenen, die Wütenden der Vorstädte zu haben, deren destruktive Energie bislang richtungslos blieb und verpuffe", so Reuter weiter. Es gab keinen großen Anschlag des IS im Westen - obwohl die Organisation jederzeit dazu in der Lage wäre. Es sei eine Frage "der Strategie und der Prioritäten" der Extremisten, "denn Anschläge sind für den IS kein Selbstzweck, sondern unterliegen wie alles dem Kalkül der Machterweiterung", so Reuter im Interview.

Diese "Diktatur, die um jeden Preis expandieren will, weiter Länder destabilisiert und die Kluft zwischen Sunniten und Schiiten radikal vertieft" wird nicht nur den Nahen Osten, sondern auch den Westen über lange Zeit in Besorgnis stürzen. Reuter warnt besonders vor einer verschärften Flüchtlingsproblematik: "Langfristig kann es uns nicht gleichgültig sein, wenn sich weiter Millionen Menschen auf die Flucht begeben müssen und das Ausmaß verübter Gewalt weiter ansteigt", sagt der Journalist. "Denn irgendwann kommen sowohl die Flüchtlinge, als auch die Gewalt nach Europa, die USA und den Rest der Welt."

So ist der "Islamische Staat" schon längst nicht mehr nur eine Gefahr für den Nahen Osten.

Christoph Reuter ist studierter Islamwissenschaftler und arbeitet als Reporter beim "Spiegel". Neben zahlreichen preisgekrönten Reportagen veröffentlichte er u. a. die Bücher "Mein Leben ist eine Waffe" (2002) über Selbstmordattentäter und, gemeinsam mit Susanne Fischer, "Café Bagdad" (2004) über den Alltag im umkämpften Irak.
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