• Sechs Wochen vor den Neuwahlen in Italien verfügt die ultrarechte Politikerin Giorgia Meloni über einen deutlichen Vorsprung gegenüber ihren Mitbewerbern.
  • Die abgelaufene Regierung unter Ministerpräsident Draghi steht hingegen vor den Scherben ihrer Legislatur.
  • Welche Konstellationen sind jetzt wahrscheinlich? Und wovor sorgt sich die EU?

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Im Palazzo Chigi, dem Amtssitz des italienischen Ministerpräsidenten, dürften bald die ersten Umzugskisten eintreffen. Am 25. September stehen Neuwahlen an, der Kampf um die Mehrheiten hat gerade erst begonnen, und Mario Draghi, der überaus beliebte und von seiner eigenen Koalition gestürzte Ministerpräsident, hat inzwischen ausgeschlossen, es noch einmal zu probieren. Aber was ist schon sicher im politisch wie klimatisch überhitzten Rom.

Auf die Menschen in Italien warten nun mitten in der Ferienzeit unruhige Wochen, die sich die wenigsten gewünscht haben. Kaum ein Ministerpräsident der jüngeren italienischen Geschichte war schließlich so beliebt wie Draghi, der in seiner Vielparteienregierung immerhin 17 Monate geräuschlos regierte. Bis zuletzt erhielt der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank Zustimmungswerte von bis zu 70 Prozent, obwohl er zahlreiche wichtige und teils schmerzhafte Reformen bei Justiz und Verwaltung auf den Weg gebracht hatte.

"Der Grund für Draghis Rücktritt waren nicht etwa unüberwindbare Meinungsunterschiede, sondern der Wille einzelner Parteiführungen, sich vor der eigenen Wählerschaft zu profilieren", erklärt Nino Galetti, Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom. "Bei den Italienern ist Draghi bis heute sehr beliebt und geachtet." Dürften sich die Italiener einen neuen Regierungschef wünschen: Es wäre mit großer Wahrscheinlichkeit der alte.

Draghi ließ die Koalitionspartner nicht strahlen – und zahlt jetzt den Preis

Gleichwohl wurde Draghi auch Opfer seines eigenen Erfolgs, weil er es verpasst hatte, seine kleineren Koalitionspartner strahlen zu lassen. Insbesondere die Fünf-Sterne-Bewegung wurde durch die zähe Kompromisssuche, ohne die es in einer solchen Regierungskonstellation nicht geht, zermalmt, was sich in einem regelrechten Sturzflug materialisierte. Innerhalb von zwei Jahren dezimierten sich die Umfragewerte von 33 auf nunmehr 10 Prozent. Bei der finalen Vertrauensabstimmung Mitte Juli war sie es denn auch, die gemeinsam mit Politikern der Berlusconi-Partei Forza Italia und der rechten Lega Nord dem Votum fernblieb und die italienische Regierung so endgültig ins Chaos stürzte.

Bis ein neuer Ministerpräsident gewählt ist, regiert Mario Draghi sein Land ohne Mehrheit geschäftsführend weiter, was auch deshalb ein schwieriges Unterfangen ist, weil Energieknappheit, steigende Zinsen (unter denen Italien besonders leidet) und das Coronavirus keine Rücksicht auf die italienische Regierungskrise nehmen. Wie gelähmt Draghi aktuell ist, zeigte sich zuletzt am Beispiel der auf Verkauf gestellten Staatsairline ITA (vormals Alitalia). Seit Wochen haben der niederländisch/französische Konzern AirFrance-KLM auf der einen und ein Konsortium aus Lufthansa und dem Fracht-Riesen Maersk auf der anderen Seite Angebote für die chronisch unterfinanzierte Airline vorgelegt.

Der Verkauf muss von der italienischen Regierung genehmigt werden, was eigentlich ein No-Brainer ist, weil Gewerkschaften und Firmenleitung unisono dafür trommeln, dass das Lufthansa-Konsortium den Zuschlag erhält. Bis heute hat Draghi jedoch nicht auf den Verkaufspapieren unterzeichnet, weshalb das Interesse der Investoren minütlich schwindet. Ob es am Ende zum Verkauf kommt, ist nicht ausgemacht. Klar ist aber: Kaum jemand in Rom glaubt, dass ITA am Tropf der italienischen Regierung lange überleben wird.

Wo es beim Verkauf der ITA im schlimmsten Fall nur um ein paar Tausend Arbeitsplätze geht, bereitet der zur "Lame Duck" gewordene Draghi den Beamten in Brüssel bei anderen Themen mittlerweile Kopfschmerzen. Denn auf EU-Ebene sorgt man sich, dass Italiens politische Krise demnächst in eine Wirtschaftskrise übergehen könnte, die auf andere Länder der Eurozone übergreift. Italiens Bruttoinlandsprodukt soll 2023 nur mehr 0,9 Prozent wachsen, was bedeutet, dass Italien wirtschaftlich wieder zum schwächsten Land in der Eurozone wird. Ohne einen gewissen Reformeifer, den es ohne politische Mehrheit nicht geben kann, darf sich Italien daher ökonomisch auf schwierige Monate einstellen.

Streit zwischen Koalitionspartnern nutzt der einzigen Oppositionspartei

Der Zwist, der für keine der beteiligten Parteien ein Bewerbungsschreiben beim Wähler ist, nutzt keiner Partei so stark wie der einzigen Opposition im italienischen Parlament: Der aus neofaschistischen Bewegungen hervorgegangenen und von nationalkonservativen Politikern mitbegründeten Fratelli d’Italia, die in dieser Legislaturperiode nie an der Macht war. Während Fratelli bei den Parlamentswahlen 2018 noch etwas mehr als vier Prozent geholt hatte, stehen die "Brüder Italiens", deren Vorsitzende Georgia Meloni die erste Regierungschefin werden will, heute bei 21 bis 24 Prozent – weit vor allen anderen Parteien.

"Die Chancen, dass Meloni gewählt wird, sind realistisch", erklärt Politikwissenschaftler und Italien-Experte Günter Pallaver. "Wegen des Wahlsystems, das gut ein Drittel der Mandate über das Mehrheitswahlsystem vergibt, sind Parteien gezwungen, Wahlkoalitionen einzugehen. Die Wahlkoalition Melonis, bestehend aus Fratelli d'Italia, Lega und Forza Italia liegt derzeit bei rund 46 Prozent, vor den anderen Wahlkoalitionen." Dazu kommt: Aller Unmut im Volk geht in diesen Tagen auf das Konto der Fratelli.

Misst man Meloni an ihren früheren Aussagen, dann würde bei ihrer Wahl in Zukunft ein anderer, schärferer Wind vom Mittelmeer her wehen – freundlich formuliert. Für welche Werte Melonis Partei steht, drückt sich schon am Parteiensymbol aus, das eine grün-weiß-rote Flamme symbolisiert, die in der neofaschistischen Symbolik aus dem Sarg Mussolinis emporsteigt.

Zwar betont Meloni immer wieder, dass in ihrer Partei kein Platz für Faschisten und Rassisten sei. Doch frühere Aussagen zu Immigration, Islam, Familienpolitik und Genderfragen sprechen eine andere Sprache. Zu den größten Fratelli-Sympathisanten gehören denn auch Mussolini-Nostalgiker und ehemalige faschistische Schläger, bei ihren Wahlkampfauftritten ist regelmäßig der "römische Gruß" zu sehen, der dem Hitlergruß in Nazideutschland entspricht.

Mit Meloni an der Spitze könne sich Europa auf "mehr Italien und weniger Europa" einstellen, erklärt Günther Pallaver. "Ihre Wahl würde die Gruppe der antieuropäischen und euroskeptischen Parteien stärken, die den Integrationsprozess stoppen und wieder den souveränen Staat in den Mittelpunkt stellen wollen."

Auch für Deutschland hätte dies schwerwiegende Folgen: "In der Wahlkoalition und künftigen Regierungskoalition Melonis befindet sich die ultrarechte Lega von Matteo Salvini.", so Pallaver. "In dessen EU-Fraktion befindet sich wiederum die AfD. Mit dem Wahlsieg der Wahlkoalition Melonis würde die AfD deshalb aufgewertet werden." Pallaver vermutet, dass die Partei gar so etwas wie der "bevorzugte informelle Ansprechpartner der Ministerpräsidentin" werden könne.

Meloni gibt sich russlandfern – ihr möglicher Koalitionspartner aber nicht

Gleichwohl lässt sich die Fratelli inhaltlich nicht mit ultrarechten Parteien wie der FPÖ in Österreich oder der AfD in Deutschland gleichsetzen, die häufig aus einem Reservoir extremer Russlandfreundlichkeit schöpfen. Seit Jahren gibt sich Meloni gegenüber Russland distanziert und verkörpert eine transatlantische Affinität zu ultrarechten Republikanern. Auch im Ukraine-Krieg betonte sie immer wieder die Nähe zu Kiew. Fratelli selbst steht damit programmatisch eher nationalistisch und ultrakonservativen Parteien wie der spanischen Vox oder der polnischen Pis nahe.

Das trifft gleichwohl nicht auf ihre favorisierten Koalitionspartner zu, allen voran der Lega Nord. Deren Chef Salvini suchte schon in der Vergangenheit die Nähe zu Russland. Ihm soll die russische Botschaft im Mai ein Flugticket zu einer "Friedensmission" nach Moskau spendiert haben, nur eine Woche nach der Invasion ging es zudem mit dem russischen Botschafter zum Essen. In der aktuellen Regierungskrise, so berichten es italienische Zeitungen, soll Russland über Salvini die Finger im Spiel gehabt haben.

Ein Vertreter der russischen Botschaft soll sich demnach Ende Mai mit einem Berater von Salvini getroffen haben – und diesen geradeheraus gefragt haben, ob die Partei von Salvini beabsichtige, ihre Minister aus der Koalition von Draghi abzuziehen. Hätte Meloni in einer solchen Koalition tatsächlich die Kraft, wie Draghi Sanktionen gegen Russland durchzusetzen oder zu verschärfen?

Wie auch immer Italien am Ende wählt. Politikwissenschaftler Galetti glaubt, dass auch eine Ministerpräsidentin Meloni schnell von den Realitäten ihres Amtes eingeholt wird: "In Italien gilt grundsätzlich, dass Oppositionspolitiker gerne mit radikalen Forderungen auffallen. In Regierungsverantwortung treten sie dann jedoch gemäßigter auf."

Über die Experten:
Dr. Nino Galetti, geboren 1972, leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom. Er studierte Politische Wissenschaft, Europarecht und Romanistik und erhielt 2009 den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages.
Dr. jur. et Dr. phil., em. Günther Pallaver ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Medien und Politische Kommunikation am Institut für Politikwissenschaft sowie am Institut für Medien, Gesellschaft und Kommunikation an der Universität Innsbruck. Seit 2021 ist Pallaver Senior Researcher am Institut für vergleichende Föderalismusforschung an der Europäischen Akademie/Eurac Research, Bozen.
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