Hunderte Rechtsextremisten zeigen in Rom den faschistischen Gruß. Doch Ministerpräsidentin Giorgia Meloni beharrt auf Schweigen. Wie problematisch ist Italiens Verhältnis zum Faschismus?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lea Hensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

2024 oder doch 1934? Das fragten sich in diesen Tagen viele mit Blick auf die Szenen aus Rom: Rund tausend schwarz gekleidete Rechtsextreme stellten sich am Sonntag im Osten der Stadt im Rechteck auf, salutierten "für alle gefallenen Kameraden" und reckten zum Schlachtruf den rechten Arm nach oben. Dreimal hintereinander, vor einem riesigen keltischen Kreuz, das als Erkennungszeichen der Szene an einer Hauswand angebracht war. Ein Schauspiel, das an Italiens dunkle Zeiten erinnert: Mit dem römischen Gruß, identisch dem Hitlergruß, salutierten die Schlägerbanden der 1920er Jahre ihrem Diktator Benito Mussolini.

Mehr aktuelle News

Der Aufmarsch der Neofaschisten vor dem ehemaligen Parteibüro des postfaschistischen "Movimento Sociale Italiano" (MSI) war eine Gedenkfeier für drei junge Männer, die vor 46 Jahren infolge eines linksterroristischen Anschlags ums Leben gekommen waren. Das Stadtviertel Tuscolano war abgeriegelt. Auch eine Polizeistreife war vor Ort, schritt aber nicht ein.

Anders als viele Medienberichte vermuten lassen, versammeln sich die Neofaschisten in Rom jedes Jahr. Und sorgen dabei immer wieder für Schlagzeilen, etwa als 2019 Teilnehmer der Veranstaltung Journalisten angriffen. Diesmal aber richtete sich der Blick auf Giorgia Meloni: Denn während Italien über seinen Umgang mit Faschismus diskutiert, beharrt die Ministerpräsidentin auf eisernem Schweigen.

Fratelli d’Italia grenzen sich nicht ab

Das empört nicht nur die Opposition. "Könnt ihr euch so eine Szene in Berlin vorstellen?", fragte der Journalist und Rechtsextremismus-Experten Paolo Berizzi in der Zeitung "Repubblica", und nannte die Aktion "eine Schande des Staates."

"Das Schweigen von Giorgia Meloni ist peinlich", sagte Elly Schlein, Chefin der Sozialdemokraten. Meloni sei "eine Gefangene ihrer Vergangenheit, von der sie sich weiterhin nicht distanzieren will." Schlein empörte sich darüber, dass die Polizei nicht einschritt – im Gegenzug aber im Dezember einen Mann bei der Mailänder Scala festnahm, weil er "Es lebe das antifaschistische Italien!" gerufen hatte.

Sogar aus den Reihen des Rechtsbündnisses der Regierung kamen klare Worte. "Wir sind eine Kraft, die sicherlich nicht faschistisch ist", sagte Antonio Tajani, Parteichef der konservativen "Forza Italia": "Wir sind antifaschistisch." Die römischen Neofaschisten sollten verurteilt werden.

Die Regierungspartei "Fratelli d’Italia" wollte sich einmal mehr nicht klar abgrenzen. Melonis Partei ist aus dem MSI entstanden, in dem sich nach der Befreiung Italiens Neofaschisten und Mussolini-Nostalgiker tummelten. Die Linksdemokraten würden den Vorfall missbrauchen, hieß es von den "Brüdern Italiens", schließlich hätten auch Mitte-Links-Regierungen nie etwas gegen die Gedenkfeier unternommen.

Wenige Stunden vor dem Aufmarsch hatten sich Politiker wie der Präsident der Region Lazio zu einer offiziellen Kranzniederlegung versammelt. Dort habe auch niemand den römischen Gruß gezeigt, argumentierte Fabio Rampelli, Abgeordneter der "Fratelli d'Italia" und Vizepräsident der Kammer. Er nannte die Neofaschisten ein paar "frei laufende Hunde".

Gesetzeslage zum römischen Gruß ist unklar

Die Opposition forderte die Regierung auf, die Teilnehmenden der Veranstaltung strafrechtlich zu verfolgen. Wenige Tage später teilte Innenminister Matteo Piantedosi mit, der italienische Staatsschutz habe 150 Faschisten unter den Teilnehmern identifiziert. Gegen fünf Verdächtige sei Strafanzeige wegen Verherrlichung von Faschismus gestellt worden. Die Staatsanwaltschaft soll gegen mehr als zehn Teilnehmer ermitteln.

Tatsächlich ist die Rechtslage zum römischen Gruß in Italien aber nicht eindeutig. Die Gesetze verbieten die Geste nur, wenn sie in einer Gruppe gezeigt wird und dazu beitragen könnte, eine faschistische Partei neu zu beleben. Viele Neofaschisten verwenden sie und werden anschließend freigesprochen. Das italienische Kassationsgericht soll die Rechtslage im Fall der Gedenkveranstaltung in der kommenden Woche klären.

Italien hat den Faschismus nie aufgearbeitet

Der Vorfall zeigt einmal mehr, wie problematisch Italiens Verhältnis zum Faschismus ist. Das Land hat dieses Kapitel seiner Geschichte nie richtig aufgearbeitet, in der Erinnerungskultur überwiegt das Gedenken an den Widerstandskampf der Partisanen.

Rechtsextreme Gruppen wurden lange Zeit nicht richtig ernst genommen: Die offen faschistische Partei MSI wurde bis heute nicht verboten. Organisationen wie die "Casa Pound" oder "Forza Nuova" treten bei Gedenkfeiern wie in Rom, oder jährlich am 29. April in Mailand, offen verfassungsfeindlich und gewaltbereit auf. Strafrechtlich vorgegangen wird gegen die Organisationen aber kaum.

Stattdessen lebt in Italien ein skurril anmutender Mussolini-Kult weiter. So ist der Geburtsort des Duce, Predappio in der Emilia-Romagna, jährlich Pilgerstätte für zahlreiche Nostalgiker. Im Geburtshaus des Diktators, dem "Haus der Erinnerungen", werden Besucher durch die Geschichte des Faschismus geführt. Zum Vergleich: Österreich hat die Besitzer von Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn zugunsten der Republik enteignet und will eine Polizeistation daraus machen, um den Ort von seiner Vorgeschichte zu lösen.

Melonis Partei trägt die faschistische Flagge im Parteisymbol

Diese Duce-Nostalgiker und Rechtsextreme dürften sich unter Giorgia Meloni sicherer fühlen als jemals zuvor. Die Ministerpräsidentin ist im Alter von 15 Jahren der Jugendorganisation des MSI beigetreten. Und heute ist die faschistische Flagge des MSI im Symbol ihrer eigenen Partei zu sehen. Videos zeigen sie 2008 neben Rechtsextremen der NPD-nahen "Forza Nuova" bei der Gedenkfeier in Rom – damals als Ministerin für Tourismus.

Doch politisch schafft es Meloni, ihre Vergangenheit zu verstecken: Die Anti-EU-Polemik aus dem Wahlkampf hat sie längst abgelegt und zeigt sich nach außen proeuropäisch und bündnistreu. Damit nimmt sie Abstand zu Vizepremier und Lega-Chef Matteo Salvini, der mit Rechtsaußen-Politikern wie Marine Le Pen oder Geert Wilders anbändelt. Sie bekennt sich klar zur Solidarität mit der Ukraine und suchte mehrfach die Nähe zu jüdischen Gemeinden.

Signalwirkung von Melonis Schweigen ist gefährlich

Andererseits will sie natürlich ihre Stammwähler halten. Neofaschisten und Faschismus-Nostalgiker dürften dazugehören. Auch deshalb kam ihr eine deutliche Abgrenzung von Mussolini und dem Faschismus wohl bislang nicht über die Lippen.

Im Gegenteil holt sie sich Faschismus-Nostalgiker in die eigenen Reihen, die Jahrestage und Heldengeschichten des Faschismus wachhalten und den Blick auf die Vergangenheit verstellen. Nach der Wahl setzte sie ihren Wunschkandidaten Ignazio La Russa als Senatspräsidenten ein. Der formal zweithöchste Amtsträger Italiens provoziert gerne mit faschistischen Gesten und trägt offen seine Duce-Verehrung zur Schau. Schon vor Jahren argumentierte er gegen ein Gesetz, das den römischen Gruß strafbar machen sollte – und reckte dann mitten im Parlament den eigenen Arm.

Dies war nicht der einzige Vorfall, der an die Zeit Mussolinis erinnerte: An einem Gymnasium in Florenz wurden vor rund einem Jahr zwei Schüler von einem Schlägertrupp verprügelt, der der Schülerorganisation von Melonis Partei angehörte. Als die Schulleiterin an die Aufmerksamkeit der Eltern appellierte, drohte ihr der Schulminister Giuseppe Valditara offen mit Konsequenzen. Auch dazu äußerte sich Meloni nicht. Die Signalwirkung ihres Schweigens ist gefährlich.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.