Auf der Insel Lampedusa mit Tausenden Flüchtlingen eskaliert die Lage. International hatte Giorgia Meloni bisher gepunktet, jetzt wird es in der Migrationsfrage für sie eng. Macht Italiens Ministerpräsidentin wahr, was man von ihr befürchtet hat?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lea Hensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Lage eskaliert, als junge Männer die Mauern der Notunterkunft hochsteigen und hinausspringen. Weg aus dem Gedränge, weg vom völlig überfüllten Lampedusa, wo seit Montag 9.000 Flüchtlinge angekommen sind. Die kleine Insel mit 6.000 Einwohnern ist am Donnerstag völlig überfordert. Sicherheitskräfte schubsen die Flüchtlinge zurück. Pfarrer Don Carmelo Rizzo, spricht von "apokalyptischen Zuständen". Bürgermeister Filippo Mannino hatte tags zuvor den Notstand ausgerufen und forderte strukturelle Lösungen. "Wir können diese Situation nicht mehr bewältigen."

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Am Donnerstag wurde ein Teil der Migranten nach Sizilien und aufs italienische Festland gebracht. Klar ist jedoch: Italien kann die Lage allein so schnell nicht stemmen. Die rechte Regierung in Rom überschlägt sich mit Vorwürfen an die EU. Vizepremier Matteo Salvini und Chef der rechten Lega sprach von einem "geplanten Kriegsangriff" auf Italien. "Deutsche Institutionen zahlen Millionen Euro an NGO, damit sie die Migranten zu uns bringen."

In dieser Woche hatte die Bundesregierung die freiwillige Übernahme von Migranten aus Italien gestoppt. Inzwischen aber will Deutschland die Aufnahme von nach Italien Geflüchteten doch fortsetzen. Hintergrund der Streitigkeiten sind einmal mehr die Regeln nach dem Abkommen von Dublin. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte, seit Dezember 2022 habe Rom keine Migranten mehr zurückgenommen, die illegal nach Deutschland weitergereist waren. Ihre Asylanträge müssen aber in Italien bearbeitet werden. Darauf angesprochen, verdrehte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nur die Augen. Damit habe sie gerechnet, sagte sie bei Rai1. "Die freiwilligen Übernahmen waren ohnehin gering."

Eine Postfaschistin in Rom

Was ist die Strategie der Frau, die vor einem Jahr mit ihrem Wahlsieg in Rom ganz Europa erschreckte? Ihre Partei "Fratelli d’Italia" führt in direkter Erblinie auf den italienischen Neofaschismus zurück. Und rechts war auch die Klaviatur, die die "Brüder" im Bündnis mit "Lega" und "Forza Italia" bespielten. "Italiener zuerst" sollte es heißen, sichere Grenzen, ja, sogar Seeblockaden sollte es geben, um das Land vor einem drohenden "Bevölkerungsaustausch" durch Migranten zu bewahren. Die "natürliche Familie" wollte Meloni beschützen, am besten sofort sollten die Italiener mehr Kinder zeugen, für "Gott, Familie, Vaterland"!

Doch schon wenige Monate später hatte man sich entspannt. Denn aus Rom wehte, so der Eindruck, ein bislang milder Wind. Giorgia Meloni gab sich moderat. Gegenüber der Ukraine zeigte sie maximale Solidarität und setzte die Waffenlieferungen fort. Zur Nato und zur EU bekennt sie sich klar. US-Präsident Joe Biden war nach einem Treffen im Juli fast verzückt. "Wir sind Freunde geworden", sagte er.

Auch ihr Migrationsansatz schien diplomatisch. Auf ihre Initiative hin schloss die EU ein Abkommen mit Tunesien und stellte Millionenhilfen für die dortige Wirtschaft in Aussicht. Im Gegenzug sollte das nordafrikanische Land Migrantenströme nach Europa stoppen. Am Mittwoch war es dann vorbei mit Diplomatie. Deutschland, Frankreich, die EU würden Italien allein lassen, sagte Meloni. "Sie fährt eine Strategie, die sich unter italienischen Rechtsnationalen bewährt hat", erklärt Professor Christian Ruggiero, der an der Universität Sapienza politische Kommunikation unterrichtet. "Zuerst international nett auftreten, und dann zu Hause sagen: Europa ist schuld."

In Italien zeigt Meloni ein anderes Gesicht

In der Tat zeigt sich Meloni in Italien anders. Gerade erst hat die Regierung eine Verordnung gegen die "Eskalation der Jugendgewalt" verabschiedet. Hintergrund waren schockierende Gewalttaten unter Jugendlichen im August. Gleich zweimal kam es zu Massenvergewaltigungen unter Minderjährigen, einmal in Palermo, einmal in Neapel. Wenig später erschoss ein 16-Jähriger einen 24-Jährigen auf der Straße.

Meloni reagierte prompt, und öffnete den Weg für "Law and Order". Dank eines neuen Gesetzes kommen Jugendliche in Italien nun schneller ins Gefängnis. War bislang ein Strafmaß von neun Jahren Haft notwendig, landen 14- bis 18-Jährige nun hinter Gittern, wenn ihnen ein Strafmaß von sechs Jahren droht. Außerdem kann die Polizei sie in Untersuchungshaft sperren, wenn sie sie in flagranti erwischt, zum Beispiel mit geringen Drogenmengen. Eltern, deren Kinder die Schule schwänzen, drohen bis zu zwei Jahre Haft.

Die Opposition protestierte. Die Gewalt entstehe durch die sozialen Missstände in den Peripherien von Städten wie Neapel. "Man muss den Schwächsten helfen und in die öffentliche Bildung investieren", so Vittoria Baldino, Abgeordnete der Fünf-Sterne-Bewegung. Stattdessen nehme ihnen die Rechten das Bürgergeld weg. Ende Juli strich die Regierung die Sozialleistung, Zehntausende wurden per SMS informiert.

Regieren ob des Echos wegen

Ob Maßnahmen wie diese ausreichen, um Italiens Haushaltskasse aufzupeppen, bleibt fraglich. "Was die Regierung macht, scheint unmittelbar ein starkes Echo zu haben", so Ruggiero. "Aber bevor sich der Blick auf konkrete Ergebnisse richtet, kommt schon ein neues Gesetz ins Spiel, das vorgibt, ein Problem mit dem Fingerschnippen zu lösen." Tatsächlich beschäftigt fast täglich eine neue Verordnung die Medien. Leider winkt das Parlament die meisten davon durch. Ruggiero geht davon aus, dass auch die Strafen für Jugendliche passieren werden. "Die Opposition ist zu zersplittert, um wirklich Gegenwind zu bieten."

Migranten, Jugendliche, LGBTQ: Sie fürchten in Italien um ihre Rechte. Verordnungen, die die italienischen Regenbogen-Familien betreffen, haben aber bislang eher den Status quo manifestiert. "Die Regierung Meloni hat nicht das Bedürfnis, Minderheiten stärker als bisher in ihren Freiheitsrechten zu berauben", sagt Ruggiero. Vielmehr wolle sie sich die Wähler erhalten, die sie vor einem Jahr mit 26 Prozent in den Regierungspalast hoben. Und die kamen vor allem aus der bürgerlichen Mitte.

Anders als ihr Juniorpartner Lega, hielt sich Giorgia Meloni am Donnerstag zurück. In einer Videobotschaft für das Wirtschaftsforum "Risorsa Mare" bekräftigte sie nur ihren Plan, Italien zum Energiehub zwischen Afrika und Europa zu machen. Kein Wort zur Lage auf Lampedusa. Die Ministerpräsidentin weiß genau: Sie darf es sich nicht mit der EU verscherzen. Immer noch stehen für Italien rund 200 Milliarden aus dem Corona-Hilfspaket auf dem Spiel. Seit Jahresbeginn erreichten mehr als 120.000 Migranten Italien – doppelt so viele wie in 2022. In der Migrantenfrage muss sich die Frau mit den "zwei Gesichtern" wohl entscheiden. Kein neues Gesetz lenkt von diesem Notstand ab.

Über die Person:

  • Professor Christian Ruggero ist Politikwissenschaftler an der Sapienza-Universität in Rom. Ruggero forscht zu politischer Kommunikation und Soziologie im Journalismus. Dabei hat er sich mehrere Jahre auf Rundfunkmedien konzentriert.

Verwendete Quellen:

  • agensir.it: Migranti: da inizio anno sbarcate 125.928 persone sulle nostre coste. Oltre 11.300 a settembre, più di 8mila negli ultimi tre giorni
  • rainews.it: Lampedusa steht vor dem Kollaps
  • "Cinque Minuti" auf Rai1
  • tg.la7.it: Decreto Caivano, le reazioni dell'opposizione
  • faz.net: Amerikas Italiener zuerst
  • mediasetinfinity.it: Giovedì 14 settembre
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