Toleranz ist in einer offenen Gesellschaft unerlässlich – das bedeutet aber auch, dass man mit Meinungen leben muss, die man selbst nicht teilt. Das ist eine der zentralen Aussagen in Joachim Gaucks Buch "Toleranz – einfach schwer" (erschienen im Herder-Verlag). Im Interview erklärt der frühere Bundespräsident, warum in einer offenen Gesellschaft auch Intoleranz angebracht sein kann – und was er von Koalitionen mit der AfD hält.
Joachim Gaucks Buch "Toleranz hat in Deutschland für Aufsehen gesorgt - vor allem, nachdem der frühere Bundespräsident sich vor kurzem in einem Interview mit dem Spiegel für "erweiterte Toleranz gegenüber rechts" ausgesprochen hatte.
Wie viel Toleranz brauchen wir? Wo muss sie aufhören? Und was bedeuten die jüngsten Gewalttaten in Deutschland für das gesellschaftliche Klima? Über diese Fragen hat
Herr Gauck, Sie haben mit Ihrem Buch für Kontroversen gesorgt – etwa mit der Aussage, auch Meinungen des rechten Spektrums müsse man Toleranz entgegenbringen. Haben die Reaktionen darauf Sie überrascht?
Joachim Gauck: Nein. Diese Reaktionen beziehen sich ja vor allem auf einen Halbsatz in einem Interview. Aus dem Buch selbst ergibt sich, dass ich mich klar von rechter Ideologie abgrenze. Es ging mir darum, den Toleranzbegriff zur Debatte zu stellen, für einen erweiterten politischen Debattenraum und für eine kämpferische Toleranz zu werben.
Was meinen Sie damit?
Ich kann eine Meinung bekämpfen – sie aber gleichzeitig als Teil des Diskurses in einer offenen Gesellschaft betrachten. Es gibt auch in rechten Parteien und Bewegungen Menschen, die vielleicht stockkonservativ oder sogar reaktionär, deswegen aber noch nicht verfassungsfeindlich sind.
Denen sollte man kritisch oder auch ablehnend, aber noch nicht mit Intoleranz begegnen. Allerdings kann Intoleranz angebracht sein – und zwar, wenn es nicht mehr um rechts oder links geht, sondern um rechtsradikal, linksradikal oder islamistisch.
Gauck: So lange tolerieren, bis "Basis des Grundgesetzes" verlassen wird
Wo genau ziehen Sie da die Grenze? Wann sollten wir eine Meinung tolerieren, wann sollten wir sie ablehnen?
Die Grenze ist überschritten, wenn jemand die Basis des Grundgesetzes verlässt, wenn jemand die Rechtsordnung nicht mehr achtet. Aufforderungen zu Hass, Frauenverachtung, Homophobie, Antisemitismus darf man nicht ertragen. Ein Beispiel: Nicht wenige zugewanderte Frauen aus Afrika sind von Genitalverstümmelung betroffen. Traditionen wie diese muss man nicht akzeptieren, da wäre Verständnis der falsche Weg. Mein Buch ist der Versuch, die Debatte über das Thema Toleranz ernst zu nehmen und zu erweitern.
Sie haben es geschrieben, weil sich die gesellschaftliche Stimmung hochgeschaukelt hat, weil Hass immer offener geäußert wird. Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni – mutmaßlich durch einen Rechtsradikalen – war dafür ein drastisches Beispiel. Hätten Sie gedacht, dass so etwas möglich ist in diesem Land?
Ja. Weil ich in einem Alter bin, in dem man sich keine Illusionen mehr darüber macht, wozu ideologisch verblendete Fanatiker in der Lage sind. Als ich jung war, waren es linksextremistische Terroristen der RAF, die für eine angeblich gute Sache gemordet haben.
Vor wenigen Jahren mordeten rechtsextremistische Täter vom sogenannten NSU. Ich war daher nicht überrascht – aber doch zutiefst entsetzt über die Brutalität von Menschen am rechten Rand, die sich zu Richtern über Leben und Tod aufspielen.
Deswegen enthält mein Buch eben auch ein Plädoyer für Intoleranz. Wenn man den Intoleranten jeden Raum gewährt, den die Toleranz schafft, dann schafft sich die Demokratie selbst ab, das Recht verliert seine herrschende Rolle und die Menschenwürde wird negiert.
Sie schreiben aber auch, Deutschland habe zu Beginn der Flüchtlingsbewegung 2015 an Meinungspluralität eingebüßt – weil sachliche Kritik daran kaum zur Sprache kam. Hat sich das in den vergangenen Jahren geändert?
Ja – zumindest haben alle miteinander begriffen, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf eine ausgewogene Berichterstattung hat. Dazu benötigen wir aber auch die Bereitschaft zur Debatte und eine neue Debattenkultur. Wenn Medien und Politiker hingegen unangenehme Informationen im Zusammenhang mit Zuwanderung oder Kriminalität zurückhalten, entsteht in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, nicht wahrheitsgemäß unterrichtet zu werden.
Schon als Bundespräsident war mein Anliegen, dass wir in der Mitte der Gesellschaft über Probleme diskutieren. Die Mitte wird im Zusammenhang mit Zuwanderung nicht ausschließlich über die sicherlich vorhandene Bereicherung sprechen. Sie sollte auch die Diskussion über Probleme nicht den Rändern überlassen.
Gauck: Herkunft des Täters nennen, ist wichtig
Finden Sie es richtig, dass die Medien schnell die Nationalität des Täters genannt haben, der in Frankfurt zwei Menschen vor einen Zug gestoßen hat?
Ja, denn Rechtsradikale hätten sofort mit Propaganda begonnen, wenn verschwiegen worden wäre, dass es sich hier um einen Migranten handelt. Gleichzeitig sollten wir einer pauschalen Denunziation von Ausländern als tendenziellen Verbrechern entschlossen entgegenwirken. Und: wie weit der kulturelle Hintergrund eines Täters in Zusammenhang mit der Tat steht, wird die seriöse gerichtliche Untersuchung erweisen.
Bald stehen Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern an. Die AfD wird dort wahrscheinlich gut abschneiden. Glauben Sie, dass andere Parteien sie dann bei der Bildung von Koalitionen weiterhin außen vor lassen können?
Ich kann mir eine Koalition mit dieser Partei nicht vorstellen. Es kann natürlich sein, dass sich die AfD eines Tages zu einer Art Deutschnationalen Volkspartei entwickelt. Die wäre mir immer noch unangenehm, könnte sich aber innerhalb des demokratischen Spektrums befinden.
Dann wäre die Situation eine andere. Zurzeit hat man aber nicht den Eindruck, dass die bürgerlich-konservativen Kräfte in der AfD dominieren. Eher im Gegenteil. Ich sehe da für die nächste Zeit keine Koalitionsmöglichkeiten.
Sie schreiben in Ihrem Buch, Toleranz sei eine Zumutung. Was meinen Sie damit?
Ich nehme meine Person als Beispiel: Ich bin Deutschland von Herzen zugetan, weil es demokratisch und rechtsstaatlich geworden ist. Wenn aber jemand anti-europäische Gedanken vorträgt, wenn jemand zu strikt nationalem Denken zurückkehren will, dann ist das für mich Unfug und zukunftslos.
Damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Mein Verstand sagt mir jedoch: Ich kann Menschen, die in dieser Sache anders denken als ich, nicht einfach aus dem politischen Diskurs herausnehmen, sondern muss mich mit deren Meinung demokratisch auseinandersetzen.
Das kann natürlich schwerfallen – deshalb ist Toleranz manchmal eine richtige Leistung, eine Zumutung sogar. Aber missliebige Meinungen einfach auszusortieren, passt nicht zur Idee der offenen Gesellschaft.
Lässt sich Toleranz denn lernen?
Ja. Das fängt in der Familie an: Dass Eltern ihren Kindern beibringen, nicht mit Verachtung über diejenigen zu sprechen, die anders sind. Hinzu kommen Schulen und Medien – und natürlich ist auch die Politik gefragt.
Im Parlament wollen wir kräftige Auseinandersetzungen hören, aber keine diskriminierenden Herabsetzungen. Die Vielfalt der Gesellschaft wird nicht verschwinden. Im Zuge der Globalisierung und der Europäisierung sind Vielfalt und Wandel vielmehr Normalität. Deshalb bleibt Toleranz eine Daueraufgabe für alle Beteiligten.
Ex-Bundespräsident mit Boot gekentert
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