Optimistisch und wortgewaltig, so kennen die Briten ihren Premier. Nach einem Jahr im Amt äußert sich Boris Johnson aber eher vorsichtig - und gibt sogar Fehler zu.
Der britische Premierminister
"Natürlich gibt es Dinge, die wir falsch gemacht haben", sagte Johnson in einem am Samstag veröffentlichten Interview des Nachrichtensenders Sky News. "Wir müssen so schnell wie möglich aus unseren Fehlern lernen."
Das Schlimmste dürfte "Mitte nächsten Jahres" vorbei sein. Kürzlich hatte er noch eine Rückkehr zur Normalität bis Weihnachten vorhergesagt.
Großbritannien ist das am stärksten von der Pandemie betroffene Land in Europa. Experten werfen der Regierung vor, spät und falsch reagiert zu haben. Viele rechnen mit einer zweiten schweren Infektionswelle ab Herbst. Das könnte den maroden staatlichen Gesundheitsdienst NHS zum Kollabieren bringen.
Schon während schwerer Grippeausbrüche zur Winterszeit steht der NHS fast jedes Jahr kurz vor dem Zusammenbruch. Was nun, wenn beides zusammenkommt?
Großbritannien hat nicht nur mit der Corona-Pandemie zu kämpfen
Doch Johnson, der am 24. Juli vergangenen Jahres Nachfolger von
Eine Verlängerung der Übergangsphase, die bis Ende des Jahres dauert, lehnte der konservative Premier strikt ab. Es droht ein harter wirtschaftlicher Bruch mit Zöllen und Handelshemmnissen.
Und noch ein Problem: Eine knappe Mehrheit der Schotten spricht sich Umfragen zufolge für die Abspaltung vom Vereinigten Königreich aus.
Grund dafür ist nach Ansicht des Wahlforschers John Curtice (Universität Strathclyde) auch Johnsons Umgang mit der Pandemie. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon äußerte sich auf Twitter zu einem Besuch Johnsons bissig: Seine Präsenz unterstreiche ein Hauptargument für die Unabhängigkeit - die Fähigkeit, eigene Entscheidungen im Landesteil zu treffen.
Jeder britische Landesteil entscheidet über seine eigenen Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Johnson hat in England bereits viele Maßnahmen gelockert. So durften am Samstag Fitnessstudios, Hallenbäder und andere Sporteinrichtungen wieder öffnen. Schottland mit Sturgeon an der Spitze agiert insgesamt vorsichtiger.
Johnson hatte sich einst damit gebrüstet, Corona-Infizierten die Hände geschüttelt zu haben. Dann erkrankte er selbst an der Lungenkrankheit COVID-19 und kam auf die Intensivstation. Dass er sich inzwischen etwas bedachter zu dem Thema äußert, könnte auch damit zu tun haben.
Premier Johnson gibt sich kleinlaut in BBC-Interview
In einem BBC-Interview zum einjährigen Amtsjubiläum gab sich Johnson eher kleinlaut: "Wir haben (das Virus) in den ersten Wochen und Monaten nicht in der Art und Weise verstanden, wie wir das gerne getan hätten." Vor allem das Ausmaß der Übertragung durch Menschen, die keine Symptome zeigten, sei unterschätzt worden.
Auf die Frage, ob Ausgangsbeschränkungen und andere Maßnahmen zu spät gekommen seien, antwortete Johnson ausweichend. Es handle sich um "offene Fragen" unter Wissenschaftlern.
Nach Angaben des Epidemiologen und Ex-Regierungsberaters Neil Ferguson vom Imperial College hätte mindestens die Hälfte der mehr als 45.500 Todesfälle in Großbritannien verhindert werden können, wäre der Lockdown im März eine Woche früher durchgesetzt worden. Die Regierung hatte zunächst auf das Konzept einer sogenannten Herdenimmunität gesetzt.
Auch die massenhafte Überführung von Patienten aus Krankenhäusern in Pflegeheime, ohne sie vorher getestet zu haben, gilt Fachleuten als massiver Fehler, der Tausende das Leben gekostet haben dürfte. Die Regierung fokussierte sich auf den Ausbau von Kapazitäten für Intensivbetten. Neben fehlenden Tests hatten Berichten zufolge auch viele Heime Schwierigkeiten, an Schutzausrüstung zu kommen.
Vermutlich sind auch viele Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen sind, die nie auf das Virus getestet wurden. Zahlen der Statistikbehörden zufolge wurden schon fast 55.000 Todesfälle erfasst, bei denen COVID-19 im Totenschein erwähnt wurde.
Die sogenannte Übersterblichkeit für die Zeit der Pandemie liegt Berechnungen der "Financial Times" zufolge bei mehr als 65.000. Damit ist die Differenz zwischen der Zahl der Todesfälle in diesem Jahr und dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre gemeint. © dpa
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