Im Strudel der Corona-Krise versucht jeder Staat, seine eigenen Bürger so gut wie möglich zu schützen. Aber ginge das in der Europäischen Union nicht besser gemeinsam? Bei einem Videogipfel versuchen die EU-Staaten einen neuen Anlauf.

Mehr aktuelle Informationen zum Coronavirus finden Sie hier

An Treueschwüren und Solidaritätsadressen fehlt es nicht. "Wir müssen zusammenarbeiten", sagte EU-Ratspräsident Charles Michel schon vorige Woche in der Coronakrise. Alle stünden hinter der Botschaft: "Wir betonen die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Linie und enger Abstimmung mit der EU-Kommission." Dann standen die 27 Staats- und Regierungschefs von ihren Bildschirm auf, und jeder machte wieder seins. Geschlossene Grenzen, Reiseverbote, Lieferverbote, alles einseitig verkündet, oft zum Ärger der Nachbarn.

Dass es nach dem Videogipfel mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren EU-Kollegen am Dienstagabend nicht wieder so ausgeht, kann Michel nur hoffen. Die Botschaft wiederholte er jedenfalls laut und klar: "Wir haben die Notwendigkeit bekräftigt, zusammenzuarbeiten und alles Notwendige zu tun, um die Krise und ihre Konsequenzen in den Griff zu bekommen." Man habe in den vergangenen Tagen intensiv mit der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten gearbeitet mit dem Ziel: "Wir schreiten zusammen voran."

Teamgeist wird dringend gebraucht, denn bisher herrscht statt der beteuerten Gemeinsamkeit eine Art Kleinstaaterei 2.0. Wenige Wochen nach Ausbruch der Covid-19-Epidemie scheint wenig übrig vom Geist der EU, wie wir sie kannten. Der Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten - freie Bewegung für Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital - ist vorerst ebenso ausgehebelt wie der Schengenraum ohne Grenzkontrollen.

Gemeinsame Leitlinien kommen zu spät

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gibt sich in der Krise zwar tatkräftig, wirkt aber bei der Koordinierung doch eher hilflos. Ihre Initiativen räumen im Grunde nur dort hinterher, wo die Hauptstädte bereits Fakten geschaffen - und den europäischen Geist untergraben haben. Beispiel waren die hektischen Versuche übers Wochenende, eine gemeinsame Linie bei den Grenzkontrollen innerhalb der EU zu finden.

Von der Leyen hatte am Freitag Leitlinien dazu angekündigt. Aber bis die am Montag vorlagen, war unter anderen Deutschland schon vorgeprescht. Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte dazu, er habe lange auf eine einvernehmliche europäische Lösung gehofft. Aber in einer Krise könne man irgendwann nicht mehr abwarten. "Schuldig macht sich nur, wer nicht handelt", sagte er. EU? Nicht, wenn es drauf ankommt.

Etliche Länder haben Grenzen dicht gemacht, lassen nur noch Landsleute und Lastwagen herein. EU-Bürger stecken fest, Pendler kommen nicht zur Arbeit, und der Güterverkehr staut sich vielerorts, weil die Grenzschützer mit Kontrollen nicht nachkommen. In von der Leyens Leitlinien lautet deshalb eine zentrale Forderung, vor Kontrollstellen zumindest eine gesonderte Fahrspur für Lastzüge auszuweisen, um den Waren-Nachschub im Binnenmarkt nicht zu behindern. Der Punkt sei sehr wichtig, sagte Bundeskanzlerin Merkel nach dem Videogipfel. Der Binnenmarkt müsse funktionstüchtig bleiben.

EU hat kaum Kompetenzen im Kampf gegen den Gesundheitsnotstand

Im Gegenzug schottet sich die EU nach außen ab: Einreisen sollen für mindestens 30 Tage auf ein Minimum beschränkt werden. Das sei in enger Abstimmung in der EU vereinbart worden, versicherte der französische Präsident Emmanuel Macron am Montagabend und setzte die Regel dann Dienstagmittag schonmal einseitig in Kraft. Dabei begann der Videogipfel erst Stunden später. Dort stimmten dann auch Deutschland und die übrigen Länder der sofortigen Umsetzung zu. So waren dann zumindest wieder alle EU-Staaten auf einem Stand.

Im Kampf gegen den Gesundheitsnotstand hat die EU kaum Kompetenzen. Einen Hebel aber hat sie in der Hand: die gemeinsame Beschaffung medizinisch wichtiger Güter wie Schutzmasken, Anzüge, Tests und Beatmungsgeräte. Die hat die EU-Kommission angeleiert: Über Ausschreibungen für Großaufträge soll nun genügend Ausrüstung für alle beschafft und verteilt werden. Auch das ging einigen aber nicht schnell genug.

Deutschland und auch Frankreich schürten Anfang März bei EU-Partnern viel Bitterkeit mit der Entscheidung, den Export medizinischer Schutzausrüstung wie Atemmasken, Handschuhen und Schutzanzügen scharf zu begrenzen. Erst nach "intensiven Diskussionen", wie EU-Kommissar Thierry Breton twitterte, erlaubte Berlin am Wochenende wieder Lieferungen an das schwer gebeutelte Italien. "Solidarität ist der einzige Weg, diese Krise zu meistern, die keine Grenzen kennt", schrieb Breton.

Wirtschafliche Maßnahmen - wirklich gemeinsam?

Das beteuern die EU-Staaten auch im Kampf gegen die schwindelerregenden wirtschaftlichen Folgen der Epidemie. Ähnlich wie in der Finanzkrise holen sie die "Bazooka" hervor: "whatever it takes", was immer nötig sei, werde gemeinsam getan werden, um Unternehmen und Bürgern in der Not zu helfen, sagte nun auch Ratschef Michel im Namen der 27. Wirklich alles? Und wirklich gemeinsam?

Die von der Eurogruppe zusammengefassten Maßnahmen sind vor allem eine Liste der von den Hauptstädten einseitig verkündeten Hilfs- und Rettungsprogramme und der Vorschläge der EU-Kommission. Ob und wie zum Beispiel der Eurorettungsschirm ESM eingesetzt wird, blieb vage. Das seit Jahren erwogene Eurozonenbudget gibt es nicht. "Der Berg kreißte und gebar eine Maus", ätzt Grünen-Finanzexperte Sven Giegold. "Entschlossene Rhetorik und die Addition nationaler Maßnahmen werden nicht reichen, um die Eurozone aus dieser Krise zu führen." Die Zeit für nationale Alleingänge sei vorbei, findet Giegold. Die 27 arbeiten dran. (Roland Siegloff, Michel Winde, Verena Schmitt-Roschmann/dpa/ash)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.