Ras al-Ain war ein Einfallstor für den türkischen Einmarsch in Syrien. Nur wenige Tage nach Beginn des Einsatzes haben sich türkische Truppen in dem Ort festgesetzt. Nun schwillt der Flüchtlingsstrom an.
Die Türkei hat am vierten Tag ihrer Militäroffensive in Nordsyrien nach eigenen Angaben die strategisch wichtige Grenzstadt Ras al-Ain eingenommen. Bei dem erfolgreichen Einsatz "Operation Friedensquelle" hätten türkische Truppen den Ort unter ihre Kontrolle gebracht, erklärte das Verteidigungsministerium in Ankara am Samstag. Menschenrechtsaktivisten bestätigten lediglich die Ankunft der Truppen in Ras al-Ain und bestritten dabei, dass diese die Stadt eingenommen hätten.
Ras al-Ain liegt an wichtiger Versorgungsroute
Ras al-Ain liegt entlang einer wichtigen Versorgungsroute zwischen den Städten Tall Abjad im Westen und Kamischli im Osten. Die Kontrolle über beide Orte haben die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die von Kurdenmilizen angeführt werden. Gegen diese hatte die Türkei am Mittwoch eine lang geplante Offensive begonnen. Ankara sieht in den Milizen einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation.
Die Außenminister der Arabischen Liga forderten ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen. Die Offensive sei eine "offenkundige Verletzung" der Souveränität Syriens, die den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) behindern und zu "neuen Krisen und mehr Flüchtlingen" führen werde, teilte Generalsekretär Ahmed Abul Gheit nach einer Dringlichkeitssitzung in Kairo am Samstag mit. Syriens Mitgliedschaft in der Arabischen Liga war 2011 wenige Monate nach Ausbruch der Aufstände im Land suspendiert worden.
Mehr als 100.000 Menschen wurden vertrieben
Der türkische Einmarsch hat in der Region eine neue humanitäre Krise ausgelöst. Seit dem Ausbruch der Kämpfe seien mehr als 100.000 Menschen vertrieben worden, teilte das Welternährungsprogramm (WFP) mit. Die meisten davon stammten aus Ras al-Ain und Tall Abjad. Diese Zahlen würden noch steigen, hieß es beim WFP in Genf.
Die Mehrzahl der Menschen sei nach Al-Hassaka geflüchtet. Die Wasserversorgung habe sich dort nach Angriffen auf eine Wasseranlage verschlechtert. Davon seien 400.000 Menschen betroffen. In Al-Hassaka versorgt das WFP derzeit rund 11.000 Menschen mit Fertignahrung.
Im Streit über den Einsatz warfen die USA der Türkei den Beschuss amerikanischer Truppen vor. Die Einheiten seien am Freitag im syrischen Grenzgebiet zur Türkei unter Artilleriebeschuss geraten, teilte das US-Verteidigungsministerium mit. Der Vorfall nahe dem Grenzort Kobane sei aber glimpflich ausgegangen. Das Pentagon fordert die Türkei auf, jegliche Handlungen zu vermeiden, "die eine sofortige Verteidigungsreaktion nach sich ziehen könnten".
Der Artilleriebeschuss führte nach Angaben aus Washington "wenige hundert Meter" entfernt von den US-Truppen zu einer Explosion. Der Vorfall habe sich in einer Gegend ereignet, "von der die Türken wissen, dass dort US-Streitkräfte präsent sind". Der US-Sender ABC News meldete kurz darauf, die Spezialeinheiten seien nach dem Vorfall von ihrem Posten abgezogen worden.
Türkei weist Vorwurf der USA zurück
Das türkische Verteidigungsministerium wies den Vorwurf zurück. Bei dem Vorfall seien türkische Grenzposten von Hügeln aus unter Beschuss genommen worden, die in der Nähe eines US-Beobachtungsposten lägen. "Als Akt der Selbstverteidigung" sei Gegenfeuer auf Stellungen der "Terroristen" eröffnet worden; damit meint die türkische Regierung in der Regel kurdische Milizen. Dabei seien "alle Vorsichtsmaßnahmen ergriffen" und keine US-Kräfte beschossen worden. Nach Rückmeldungen seitens der USA sei das Feuer "vorsichtshalber" eingestellt worden.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits zuvor jede Kritik an der Militäroffensive zurückgewiesen. Die Türkei erhalte derzeit "von rechts und links Drohungen", sagte Erdogan am Freitagabend bei einer Ansprache in Istanbul. "Aber wir werden nicht stoppen. Wir werden keinen Schritt mehr zurückgehen."
Die USA dringen auf einen Abbruch der Offensive und drohen Ankara harte Strafmaßnahmen an. "Wenn wir müssen, können wir die türkische Wirtschaft stilllegen", warnte Finanzminister Steven Mnuchin. Die USA bereiteten "sehr harte Sanktionen" vor, die "jede Person mit Verbindungen zur türkischen Regierung" und auch Finanzinstitute treffen könnten. "Ich hoffe, dass wir sie nicht anwenden müssen." Die Türkei dürfe zudem keinesfalls erlauben, dass auch nur ein einziger IS-Gefangener im türkischen Einmarschgebiet entkomme.
Opferzahlen steigen stetig auf beiden Seiten
Die Offensive hat in den ersten Tagen bereits zahlreiche Menschen das Leben gekostet. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte kamen seit Beginn der Offensive 28 Zivilisten ums Leben, darunter vier Menschen, die durch Luftangriffe türkischer Jets nahe Ras al-Ain getötet wurden. Zu den Toten auf Seiten der Kurdenmiliz YPG gibt es stark widersprüchliche Zahlen. Die SDF gaben an, 23 ihrer Kämpfer seien umgekommen. Dagegen erklärte das türkische Verteidigungsministerium, mehr als 400 YPG-Kämpfer seien "außer Gefecht" gesetzt worden.
Zudem gab es Befürchtungen über ein Wiedererstarken der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), deren Anhänger zu Tausenden in Gefängnissen in Nordsyrien einsitzen. Nach Angaben der SDF konnten fünf IS-Kämpfer die Offensive zu einem Ausbruch aus einem Gefängnis in Kamischli nutzen. SDF-Sprecher Mustafa Bali machte den IS für einen Autobombenanschlag vor einem Gefängnis in Al-Hassaka verantwortlich, in dem IS-Extremisten sitzen. Die SDF hätten Verstärkung dorthin geschickt, um einen Ausbruch von IS-Anhängern zu verhindern. (mgb/dpa)
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