Knapp 13 Millionen Menschen in Syrien wissen nicht, wie sie sich ernähren sollen. Der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Mathias Mogge, spricht im Interview über die aktuelle Lage nach dem Sturz des Assad-Regimes – und seine Erwartungen an die neuen Machthaber.
Als vor einem Monat in Syrien die Herrschaft des Diktators Baschar al-Assad zu Ende ging, ergriff ein Freudentaumel das Land. Die Menschen hoffen auf Frieden und einen politischen Neuanfang. Doch die Freude über den Umsturz kann ein dringendes Problem des Landes vorerst nicht lindern: Nach 13 Jahren Bürgerkrieg ist Syrien vor allem ein armes Land. Dem Welternährungsprogramm zufolge wissen 12,9 Millionen im Menschen dort nicht, wie sie sich ernähren sollen.
Im Gespräch mit unserer Redaktion macht Mathias Mogge, Generalsekretär und Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe, deutlich: Wenn das Land endlich zu Ruhe und politischer Stabilität kommt, lässt sich auch der Hunger schnell bekämpfen.
Herr Mogge, worunter genau leiden die Menschen in Syrien?
Mathias Mogge: Unter einer schlechten Ernährungslage und dem Zusammenbruch der Infrastruktur in vielen Gebieten. Die Märkte in Städten wie Aleppo oder Idlib sind durchaus gut bestückt, aber die Preise sind sehr hoch. Die Menschen haben schlicht nicht genug Geld in der Tasche, um sich Lebensmittel kaufen zu können. Zusätzlich sind viele Häuser durch den Krieg zerstört worden. Die humanitäre Lage ist nach wie vor katastrophal.
Wie können Sie da konkret helfen?
Wir haben derzeit rund 150 Mitarbeitende vor Ort in Syrien, arbeiten aber auch mit syrischen Organisationen zusammen. Wir haben zum Beispiel Mehl an Bäckereien geliefert. Wir haben auch Geld und Sachgutscheine verteilt, damit die Menschen sich das Wichtigste kaufen können. Gerade die Situation von Kindern macht uns große Sorgen. Wenn Kinder jeden Tag nur eine oder zwei Mahlzeiten zu sich nehmen, die vor allem aus Brot bestehen, werden sie sehr schnell unterernährt, fehlernährt und krankheitsanfällig.
Die Welthungerhilfe ist unter anderem im Nordwesten Syriens aktiv – also in der Region, die im Februar 2023 auch von einem verheerenden Erdbeben erschüttert wurde. Sind die Folgen heute noch zu spüren?
Absolut. Es gibt in der ganzen Region ganze Straßenzüge, die zerstört sind: entweder vom Krieg oder vom Erdbeben. Beides hat massive Spuren hinterlassen. In Syrien gab es nach dem Erdbeben so gut wie keine Hilfsleistung vom Staat – anders als in der Türkei. Nur die Menschen, die dort leben, haben praktisch mit ihren Händen und mit den einfachsten Mitteln versucht, Überlebende zu finden und das Wichtigste wieder aufzubauen.
Die Macht in Syrien haben jetzt die islamistischen HTS-Milizen übernommen. Können Sie mit ihnen zusammenarbeiten?
Die HTS ist schon lange in Aleppo und in Idlib an der Macht. Ich würde nicht von Zusammenarbeit sprechen. Aber natürlich müssen wir uns als Hilfsorganisation vor Ort registrieren und Projekte anmelden. Die wissen, wer wir sind – und wir wissen, wer sie sind. Bis jetzt sind wir jedenfalls nicht behindert worden in der notwendigen Arbeit.
Der Jubel über den Sturz Assads war vor einem Monat groß. Allerdings ist die Frage, ob die neuen Machthaber für die erhoffte Stabilität sorgen können.
Das wollen im Moment viele gerne wissen. Ich auch. Man wird die neuen Machthaber an ihren Taten messen müssen. Entscheidend ist, wie sie mit den Minderheiten im Land umgehen und die Arbeit von Hilfsorganisationen zulassen. Die Kurden zum Beispiel stehen gerade unter massivem Druck, weil er von zwei Seiten kommt: von der Türkei und von den neuen Machthabern im Land, die ein geeintes Syrien wollen. Wir können nur hoffen, dass das Land zur Ruhe kommt. Es verfügt eigentlich über viele Ressourcen. Meine große Hoffnung ist, dass die neue Regierung für Stabilität sorgt und das Land zügig in eine Phase des Wiederaufbaus kommt, statt von Nothilfe abhängig zu sein.
Vor einigen Jahren hatte die Bekämpfung des Hungers auf der Welt Fortschritte gemacht. Inzwischen hat sich die Situation wieder zugespitzt. Was müsste passieren, um den Hunger wieder besser bekämpfen zu können?
Die großen Hungertreiber auf der Welt sind die vielen Konflikte und der Klimawandel. Syrien ist leider ein gutes Beispiel dafür. Dort hat es vor Beginn des Bürgerkriegs kaum Hunger gegeben – inzwischen befindet sich das Land in einer tiefen Ernährungskrise. Verantwortlich dafür ist in erster Linie der Krieg, zum Teil auch der Klimawandel. Ich hoffe, dass die aktuelle Entwicklung in Syrien auch ein Beispiel für andere Konfliktherde sein kann. Wir werden sehen: Wenn ein Konflikt dauerhaft beendet ist und es wirklich zu einer friedlichen Koexistenz der gesellschaftlichen Gruppen kommt, dann wird auch die Bekämpfung des Hungers schnell Fortschritte machen.
Über den Gesprächspartner
- Mathias Mogge ist studierter Agraringenieur und Umweltwissenschaftler. Seit 1998 arbeitet er für die Welthungerhilfe und war unter anderem als Regionaldirektor in Bamako (Mali) tätig. Seit 2018 ist er Generalsekretär der Organisation.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.