• Fehlende Wahlzettel, Stimmabgaben bis weit nach 18 Uhr, geschätzte Wahlergebnisse – die Pannenmeldungen zur Abgeordnetenwahl in Berlin reißen nicht ab.
  • Landeswahlleiterin Petra Michaelis ist bereits zurückgetreten, hat Einspruch gegen das Ergebnis der Chaoswahl eingelegt.
  • In zwei Wahlkreisen könnten die Fehler sogar Mandatsrelevanz gehabt haben. Was es damit auf sich hat und wie wahrscheinlich eine Wahlwiederholung nun ist, erklärt Politikwissenschaftler Uwe Kemper.

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Sie wurde als "Superwahl" angekündigt, doch die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, die parallel zur Bundestagswahl und zwei weiteren Abstimmungen stattfand, verdient eher den Titel "Pannenwahl": In etwa zehn Prozent der über 2257 Wahllokale soll es zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein. Das beschäftigt nun den Berliner Verfassungsgerichtshof.

"Es gab eine Reihe von Wahlverstößen, darunter sogar Wahlunterbrechungen", bestätigt Politikwissenschaftler Ulf Kemper im Gespräch mit unserer Redaktion. So geschehen etwa in Friedrichshain-Kreuzberg: Mehrere Wahllokale wurden dort für 100 Minuten geschlossen. "Es gab teilweise dann so lange Warteschlangen, dass gerade ältere Leute nicht mehr wählen gegangen sind", sagt Kemper.

Stimmabgabe nach 18 Uhr

Durch die langen Wartezeiten gaben etliche Berlinerinnen und Berliner ihre Stimme erst weit nach 18 Uhr ab, in Ausnahmefällen sogar bis 21 Uhr. "Das ist zwar im Wahlgesetz nicht ausgeschlossen, aber nur, wenn sich die Wähler auch wirklich vor 18 Uhr angestellt haben", bemerkt Kemper. Es sei nicht überall kontrolliert worden, ob sich Menschen nicht auch nach 18 Uhr noch angestellt hätten.

"Das heißt, dass einige auf ihren Handys schon die Hochrechnungen sehen konnten und in ihrer Wahlentscheidung nicht mehr frei von äußeren Einflüssen waren", sagt der Politikwissenschaftler. Ob es sich dabei um tausende oder gar zehntausende Stimmen handelt, wird in Berlin noch diskutiert.

Falsche Stimmzettel verteilt

Doch damit nicht genug: In 100 Wahllokalen waren zu wenig Stimmzettel vorrätig oder es lagen die falschen aus, weil sie mit den Stimmzetteln anderer Wahllokale vertauscht wurden. Das Chaos hatte sich schon bei der Briefwahl angedeutet: Wahlberechtigte hatten mit den Unterlagen keine Wahlzettel für den parallel stattfindenden Volksentscheid erhalten.

Die Wahlhelfer übermittelten außerdem in einigen Fällen nicht die gezählten Stimmen, sondern schätzten die Wahlergebnisse einfach. So mussten die Zweitstimmen-Ergebnisse in einem Spandauer Wahllokal nach einer Neuauszählung massiv korrigiert werden: Die Linkspartei kam plötzlich auf 7,9 statt vorheriger 1,9 Prozent, die AfD fiel deutlich von 21,6 auf 7,9 Prozent.

Fantasiezahlen übermittelt

"Für die Zweitstimme zum Abgeordnetenhaus wurden 363 Stimmzettel versehentlich zu wenig ausgegeben", hatte Bezirkswahlleiter Thomas Fischer zugegeben. Sie seien erst ab 14:15 Uhr ausgegeben worden, obwohl sie von Anfang an vorhanden gewesen seien.

Die Wahlhelfer hätten die Zahlen logisch angepasst, um überhaupt ein Ergebnis eingeben zu können. "Die übermittelten Zahlen hätte das Wahlprogramm nicht akzeptiert", hatte Fischer weitergesagt. Die Fantasiezahlen wiesen 464 gültige Zweitstimmen aus, das amtliche Endergebnis nur noch 127 – also 337 Stimmen weniger.

Haben Fehler Mandatsrelevanz?

Kein Wunder, dass Innensenator Andreas Geisel (SPD) angesichts dieser Reihe an Pannen kurz nach der Wahl feststellte: "Das Vertrauen in das ordentliche Funktionieren von Wahlen in Berlin" sei "erschüttert". Er kündigte an, Einspruch beim Verfassungsgerichtshof einzulegen.

Neben der Klage der mittlerweile zurückgetretenen Landeswahlleiterin Petra Michaelis sind auch zahlreiche Bürgerbeschwerden eingegangen. "Wenn die Grundsätze einer allgemeinen, gleichen, freien, geheimen und direkten Wahl nicht eingehalten wurden und gemachte Fehler eine Mandatsrelevanz haben, muss die Wahl wiederholt werden", betont Experte Kemper. Mandatsrelevanz bedeutet, dass sich die Fehler möglicherweise die Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus und damit die Machtverhältnisse ändern könnten.

Nachwahlen in Teilen Berlins

Besonders im Fokus stehen dabei die Wahlkreise 1 (Marzahn-Hellersdorf) und 6 (Charlottenburg-Wilmersdorf). "Hier war der Abstand zwischen den Direktkandidaten so gering, dass der Falsche eingezogen sein könnte", sagt Kemper.

So wurde in Charlottenburg-Wilmersdorf zunächst die designierte regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) als Siegerin gekürt, nach einer Nachzählung dann Alexander Kaas-Elias (Grüne). "Es könnte nun zu Nachwahlen in einzelnen Wahlbezirken oder -kreisen kommen", sagt Kemper deshalb.

Rund 62.000 Wähler betroffen

Durch die Wiederholung könnte es sowohl zu Veränderungen bei der Verteilung von Direktmandaten als auch bei Listenmandaten kommen. "Es geht um 62.000 Menschen, das sind 2,5 Prozent der Stimmen", erklärt Kemper. Insgesamt umfasst das Berliner Landesparlament 147 Sitze.

Dass die Bundestags- oder Abgeordnetenwahl als Ganzes wiederholt werden muss, gilt in der Berliner Politik derweil aber als unwahrscheinlich. Auch wenn der Spitzenkandidat der Freien Wähler in Berlin, Marcel Luthe, gegenüber dem Online-Portal "Tichys Einblick" meinte, dass ihm eine Wahlwiederholung "unumgänglich" scheint. Die Freien Wähler verpassten mit 0,8 Prozent den Einzug ins Abgeordnetenhaus deutlich.

Was gegen eine Wiederholung spricht

Experte Kemper sieht einige Argumente, die gegen eine Wahlwiederholung sprechen: "Die Rechtsprechung zielt eigentlich darauf ab, dass Wahlen nicht wiederholt werden, um die Stabilität der Demokratie nicht zu gefährden." Aktuell gäbe es schon eine Form von Nachwahlkampf, die Parteien versuchten sich dabei gegenseitig mit den Wahlpannen in Verbindung zu bringen und stritten über das Ergebnis der Sondierungen, rot-grün-rote Koalitionsverhandlungen aufzunehmen, anstatt wie im Bund ein Ampel-Bündnis zu bilden.

"Bei einer Wahlwiederholung würde man möglicherweise zu anderen Ergebnissen kommen, wodurch es ein Legitimitätsproblem gäbe", gibt Kemper zu Bedenken. Stepahn Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte bereits darauf hingewiesen, dass nicht jeder Mangel eine Wahl ungültig mache.

Demokratiepolitischer Schaden

"So oder so haben die Pannen zu einem großen demokratiepolitischen Schaden geführt, sie sorgen für einen Vertrauensverlust in die Institutionen", sagt Kemper. Politikverdrossenheit könne ein Ergebnis von solch fehlerhaft durchgeführten Wahlen sein.

"Die Berliner haben die logistische Herausforderung von vier gleichzeitig durchgeführten Wahlen unterschätzt. Die Wahlhelferinnen und -helfer hätten besser geschult sein müssen", analysiert Kemper. Das Verwaltungshandeln sei fehlerbehaftet gewesen. Das wichtigste sei nun: "So etwas darf sich auf keinen Fall wiederholen."

Über den Experten: Ulf Kemper lehrt als Politikwissenschaftler an der Universität Bielefeld. Er studierte an der Leibniz Universität Hannover und der Universität Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Politikfeldanalyse, Politische Theorie, Europapolitik und politische Soziologie.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Ulf Kemper
  • Tichy’s Einblick: "Berlin, du bist so unfassbar..."
  • BZ-Online.de: "Auch in Spandau wurden Wahlergebnisse geschätzt"
  • Land Berlin: "Ergebnisse der Abgeordnetenhauswahl 2021. Amtliches Endergebnis"
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