Am Sonntag war es endlich so weit. Die ersten drei israelischen Geiseln wurden von der Hamas freigelassen. Fast zeitgleich trat eine sechs Wochen lange Feuerpause in Kraft. Wie brüchig ist diese Waffenruhe? Und welche Rolle spielen die USA unter Donald Trump künftig im Nahen Osten? Unsere Redaktion hat darüber mit dem Nahost-Experten Sascha Bruchmann vom International Institute for Strategic Studies in Bahrain gesprochen.

Ein Interview

Web.de: Herr Bruchmann, kommt der Geiseldeal hauptsächlich der Hamas zugute?

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Sascha Bruchmann: Die Hamas, die militärisch unter Druck geraten ist und Tausende ihrer Kämpfer verloren hat, profitiert definitiv von einer Waffenruhe. Andererseits zieht auch Netanyahu einen Vorteil daraus: Er kann durch die Freilassung der Geiseln einen Erfolg präsentieren, war ja zuletzt stark unter Druck geraten. Hunderttausende demonstrierten auf den Straßen von Tel Aviv für einen Deal mit der Hamas.

Heißt das, die Waffenruhe ist für beide Seiten gleichermaßen von Vorteil?

Wenn man die nackte Kosten-Nutzen-Rechnung betrachtet, ist der Deal eher zum Nachteil von Israel. Das sieht man schon an den gemischten Reaktionen. In Israel gibt es weder Freudenstürme über das Abkommen noch Feierlichkeiten. Im Gegenteil: Drei Minister sind als Reaktion auf das Abkommen aus Netanyahus Regierung ausgetreten. Im Gazastreifen hingegen wird gefeiert. Für die Hamas ist die Feuerpause die Möglichkeit sich von den dauernden Kämpfen zu erholen.

Neben den drei zurück getretenen Ministern hat auch Finanzminister Bezalel SmotrichHat mit Rücktritt gedroht, wenn auf die Waffenruhe eine weitere Annäherung folgt. Läuft Netanyahus Regierung Gefahr, auseinander zu fliegen?

Die Koalition war bereits seit längerem sehr fragil. Vergangenen November entließ Netanyahu seinen Verteidigungsminister Joav Gallant, weil dieser der Hamas bei den Verhandlungen um ein Abkommen mehr Zugeständnisse machen wollte als es Netanyahu lieb war. Daher ist die Situation nicht neu.

Wie sehr steht der Premier unter Druck?

Er hat durchaus eine positive Bilanz vorzuweisen. Er kann einen entscheidenden Schlag gegen die Hisbollah verbuchen. Zudem hat er es geschafft, die Hamas im Gazastreifen entscheidend zu schwächen und zentrale Stellungen in Syrien zu besetzen. Das ist beachtlich. Aber in Israel hat niemand vergessen, welche Verantwortung Netanyahu für das Massaker am 7. Oktober 2023 trägt.

Welche ist das?

Das Versagen der Geheimdienste im Vorfeld der Angriffe geht auf sein Konto. Es wurden zahlreiche Hinweise ignoriert. Außerdem wurde das Militär teilweise in das Westjordanland abkommandiert, um dort die Siedlungspolitik durchzusetzen.

Wann wird er dafür zur Rechenschaft gezogen?

Netanyahu stand ja bereits zuvor scharf in der Kritik wegen der von ihm geplanten Justizreform. Der Krieg gegen die Hamas und die Hisbollah hat dann zu einer Art Burgfrieden geführt. Im Moment hat keine der anderen Parteien, weder in der Regierung noch in der Opposition, ein Interesse daran, die Regierung zu stürzen, weil sie sich davon kein besseres Ergebnis versprechen. Das kann sich aber ändern.

Außenpolitisch steht Israel so stark da wie schon lange nicht mehr. Baschar Al-Assad wurde in Syrien gestürzt, die Hamas dezimiert und die Hisbollah entscheidend geschwächt.

Aber auch das kann sich ändern. Der Waffenstillstand mit der Hisbollah soll kommende Woche auslaufen. Bisher zeigt das libanesische Militär wenig Interesse daran, gegen die Hisbollah im Süden vorzugehen. Das bedeutet, dass Israel dort möglicherweise wieder militärisch aktiv werden wird. Wir haben zuletzt mehrere hundert Verletzungen der Waffenruhe gesehen. Die meisten davon bestehen aus israelischen Luftschlägen gegen angebliche Stellungen der Hisbollah. Und tatsächlich versucht die wieder Gebietsgewinne zu machen. Es herrscht keine stabile Lage.

Und in Syrien?

Ahmed al-Scharaa, der Anführer des HTS-Milizbündnisses und de facto Machthaber, hat seinen islamistischen Kampfnamen Abu Muhammad al-Dschaulani zwar abgelegt, die neue Regierung in Damaskus könnte sich aber noch als Wolf im Schafspelz entpuppen, weil sie dem Dschihadismus eben nicht abgeschworen hat. Auch ist unklar, ob es gelingt die vielen verschiedenen Milizen dort in eine reguläre Armee zu überführen. Die Situation an der Grenze ist für Israel daher äußerst unsicher.

Wie steht es mit Iran?

Die Regierung in Teheran hat mit Assad einen wichtigen Verbündeten verloren, und ihre Milizen im Libanon und im Gazastreifen sind dezimiert. Die Ambitionen sind indes nach wie vor dieselben. Iran exportiert Öl unter Umgehung der Sanktionen, finanziert damit seine Armee und seine Revolutionsgarden, deren erklärtes Ziel es ist, die regionale Dominanz zu erringen. Man darf Iran also nicht abschreiben.

Was wird sich unter einem Präsident Donald Trump in der Region ändern?

Hätten Sie mich vor zwei Wochen gefragt, ob der Geiseldeal so wie er ist, durchgesetzt würde, hätte ich nein gesagt. Aber Trump hat seinen Sondergesandten in die Region geschickt, nachdem er der Hamas gedroht hatte. Und eine Woche vor seiner Amtseinführung stand die Waffenruhe.

Sie wirken skeptisch…

Nun ja, die Israelis haben einem für sie weniger vorteilhaftem Deal zugestimmt. Und das mit einem US-Präsidenten, der den Israelis sehr zugeneigt ist, der Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt hat. Und mit einem Kongress, der von Republikanern dominiert wird. Ich kann mir vorstellen, dass Trump mit Netanyahu eine geheime Vereinbarung getroffen hat, die den Israelis dafür andere Vorteile zusichert.

Die da wäen?

Es könnte Folge-Deals geben, die noch geheim gehalten werden. Etwa weitere Abkommen mit den arabischen Nachbarländern. Die Abraham-Akkorde waren damals ein großer diplomatischer Erfolg der ersten Amtszeit von Donald Trump. Solche Abkommen könnten für Israel von großem Vorteil sein.

Welche Rolle spielt eigentlich die Bundesregierung und ihre Diplomatie in der Region?

Eine geringe.

Und bei der Aushandlung des Geiseldeals?

Ich habe keine Kenntnis davon, dass wir bei den konkreten Verhandlungen irgendeine Rolle gespielt haben. Wir sind Geldgeber für die EU und verschiedene humanitäre Projekte in der Region. Wir haben ein kleines Kontingent bei der UNIFIL-Mission im Libanon, aber weder politisch noch militärisch irgendeinen Einfluss, der über den anderer EU-Staaten hinausgeht.

Über den Experten:

  • Sascha Bruchmann ist Nahost-Experte des International Institute for Strategic Studies in Bahrain. Er analysiert aktuelle Kriege und Konflikte in der Region aus geopolitischer, militärischer, wirtschaftlicher, soziologischer und informationeller Sicht.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Sascha Bruchmann.

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