Israel wirft zwölf Mitarbeitern des Hilfswerks UNRWA vor, an dem Massaker am 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein. Zehn Prozent der Beschäftigten sollen darüber hinaus Verbindungen zur Hamas haben, so die israelische Regierung. Was hat es mit der Hilfsorganisation auf sich?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ein Mann soll an einem Massaker in einem Kibbuz beteiligt gewesen sein, bei dem 97 Menschen getötet worden sind. Einer soll gemeinsam mit seinem Sohn an der Entführung einer Frau aus Israel beteiligt gewesen sein. Ein dritter soll Munition an die Hamas-Kämpfer ausgegeben haben. Allesamt seien sie Mitarbeiter der Vereinten Nationen, so zitiert die "New York Times" ein Dossier, dass die israelische Regierung erstellt hat. Insgesamt zwölf Mitarbeiter des Hilfswerkes der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) sollen am Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober mitgewirkt haben.

Mehr News zum Krieg in Nahost

Laut dem "Wall Street Journal" finden sich in dem Dossier weitere Hinweise darauf, dass insgesamt zehn Prozent der 12.000 Mitarbeiter von UNRWA im Gazastreifen Verbindungen zur Hamas haben. "Die Institution als Ganzes ist ein Hort für die radikale Ideologie der Hamas", zitiert die Zeitung einen anonymen israelischen Beamten.

Die Reaktion auf die Vorwürfe kam prompt: Zahlreiche Staaten, darunter die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, haben ihre Zahlungen an das Hilfswerk der Vereinten Nationen eingestellt.

Der israelische Außenminister Israel Katz forderte als Reaktion auf die Vorwürfe gegenüber der "Welt", das UNRWA aus dem Gaza-Streifen abzuziehen. Die Organisation könne nicht die Lösung sein, sie sei vielmehr Teil des Problems. Israel müsse zukünftig Verantwortung für die Sicherheit in Gaza übernehmen, damit der Terror nicht zurückkomme. Das zivile Leben müssten ihm zufolge aber andere internationale Organisationen verwalten, so der Außenminister.

Wie soll es nun weiter gehen mit UNRWA? Und wie eng sind die Mitarbeiter der Hilfsorganisation mit der Terror-Organisation Hamas verbunden?

© AFP/Thorsten Eberding

Experte: "Die Hamas hat kein Parteibuch"

Markus Loewe ist Experte für Entwicklungszusammenarbeit mit dem Nahen Osten. Gegenüber unserer Redaktion erklärt er: "Wir wissen bisher nicht mit letzter Sicherheit, was dran ist an den Vorwürfen." Er könne sich nicht vorstellen, dass die Vorwürfe erfunden seien, dass zwölf Mitarbeiter der UNRWA an dem Massaker am 7. Oktober beteiligt gewesen seien. Dafür sind die Hinweise zu klar.

Aber: "Was die Vorwürfe angeht, dass zehn Prozent der Mitarbeiter von UNRWA mit der Hamas verbunden sind: Da sollte man aufpassen. Die Hamas hat kein Parteibuch. Ich zweifle daran, dass man das in dieser Ausdrucksweise aufrechterhalten kann." Eine Nähe zur Hamas sei bei der Arbeit im Gaza-Streifen unvermeidlich, sagt Loewe, einfach schon, weil ein Großteil der Bewohner dort die Hamas befürworten: "Es gibt Umfragen, nach denen zwischen 30 und 60 Prozent der Bevölkerung im Gaza-Streifen mit der Hamas sympathisiert."

Dafür will Loewe Verständnis aufbauen: Man müsse sich vor Augen führen, wie es ist, wenn man über Jahrzehnte in einem kleinen Gebiet wie dem Gaza-Streifen lebt, unter den bekannten Bedingungen vor Ort. "Wenn man dann der ideologischen Propaganda der Hamas ausgeliefert ist, entwickelt man Sympathien für diese Organisation, die sich als einzige Hilfe für die Menschen vor Ort darstellt."

UNRWA beschäftigt nach eigenen Angaben insgesamt rund 30.000 Mitarbeiter, 12.000 davon im Gazastreifen, von denen die überwiegende Mehrheit palästinensische Flüchtlinge sind. Es hätten daher sicherlich große Teile der Beschäftigten von UNRWA Sympathien für die Hamas. Das sei letztlich ein Abbild der Bevölkerung: "Das muss aber keine direkte Kooperation bedeuten", sagt Loewe.

Lesen Sie auch

Welche Funktion hat UNRWA für die Menschen im Gaza-Streifen?

Im Friedensfall – soweit man davon laut Experte Loewe überhaupt sprechen kann – ist UNRWA für die Versorgung der palästinensischen Flüchtlinge zuständig. Das Hilfswerk wurde nach der sogenannten "Nakba" gegründet, der Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina im Zuge der Gründung des Staates Israel und dem anschließenden Krieg mit den arabischen Nachbarn 1948.

"UNRWA hat für die Menschen in den Flüchtlingscamps zunächst einmal Zeltstädte und Flüchtlingsunterkünfte gebaut", sagt Loewe. Es sei damals davon ausgegangen worden, dass diese Übergangslösung nur für einige Jahre halten müsse. Daraus wurden fast 80 Jahre. Nun betreibt UNRWA Schulen und leistet medizinische Unterstützung sowie Sozialhilfe. "Das ist vor allem in Ländern wie Jordanien und Syrien wichtig, wo die Regierungen es nicht für nötig erachten, den geflohenen Palästinensern zu helfen und sie in die Gesellschaft zu integrieren."

Wichtig dabei: UNRWA wird ausschließlich über freiwillige Spenden organisiert – nicht vom UN-Haushalt. Die größten Geber sind die USA, Deutschland und die EU. Das hat auch politische Motive, sagt Experte Loewe: "Für diese Länder ist UNRWA sehr bequem. Sie haben damit ein Instrument, um sagen zu können: 'Einerseits unterstützen wir Israel, andererseits tun wir auch was für die Palästinenser.'" Eine dauerhafte Lösung sei dies aber nicht. Seit 80 Jahren lebten bereits die Enkel der Vertriebenen in Flüchtlingsunterkünften, ohne wirklich in die Gesellschaften integriert zu werden oder eine dauerhafte Perspektive zu erhalten.

Weitere News gibt's in unserem WhatsApp-Kanal. Klicken Sie auf "Abonnieren", um keine Updates zu verpassen.

Was würde passieren, wenn es UNRWA nicht mehr gibt?

"Dann gäbe es für große Teile der Palästinenser keinen Schulunterricht, keine medizinische Versorgung und noch nicht einmal zu essen und zu trinken", sagt Nahost-Experte Loewe zu dem Vorschlag von israelischer Seite, UNRWA im Gaza-Streifen aufzulösen.

"Man würde die Menschen im buchstäblichen Sinne verhungern und verdursten lassen." Keine andere Organisation würde es in so schneller Zeit schaffen, die Versorgung von so vielen Menschen zu gewährleisten und die Strukturen vor Ort aufzubauen: "Das würde zu Anarchie und Chaos führen."

Über den Gesprächspartner

  • Markus Loewe ist Ökonom und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprogramms "Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme" des German Institute of Development and Sustainability. Er arbeitet unter anderem zu Themen der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Nahen Osten.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.