Die Schreckensbilder aus Gaza reißen nicht ab, kaum ein Superlativ taugt mehr, um das Ausmaß der Zerstörung zu beschreiben. Thorsten Schroer war als Rettungsassistent mehrmals vor Ort und beschreibt die humanitäre Lage in Gaza. Er sagt: Eine militärische Lösung wird es nicht geben – und fordert vor allem an einer Stelle zum Umdenken auf.

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Große Krater überziehen den Boden, die Häuser selbst sehen nur noch aus wie Stahl-Skelette, überall häufen sich Trümmer und Schutt. Das Bild, welches der Krieg in Gaza hinterlassen hat, ist dramatisch. Mehr als 42.000 Menschen sind seit dem 7. Oktober 2023 getötet worden, 2,1 Millionen Menschen suchen in humanitären Zonen nach Schutz.

"Katastrophal und alle Synonyme, die ein Wörterbuch dafür kennt, beschreiben die Lage in Gaza", sagt Thorsten Schroer. Der ausgebildete Rettungsassistent ist über die Hilfsorganisation "Cadus" mehrmals in Gaza vor Ort gewesen. Dort koordiniert sein Team zum Beispiel medizinische Evakuierungen oder arbeitet in Krankenhäusern vor Ort.

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Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben ihre Angriffe auf die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen fortgesetzt. Tausende Menschen versuchen deshalb, in den Süden des Gazastreifens zu gelangen.

Enorme Zerstörung

"Man kann es sich kaum vorstellen", sagt der medizinische Helfer und ringt um Worte. "Ich habe einiges an Erfahrung: Ich war sechs Jahre Soldat, war im Kosovo, in Afghanistan und als humanitärer Helfer im Sudan, in Haiti, der Westsahara und der Ukraine. Mich haut so schnell nichts um", sagt er. Gaza aber, das sei "noch einmal eine ganz andere Hausnummer".

Wie in einem dystopischen, postapokalyptischen Science-Fiction-Film wirke die Kulisse des kleinen Landstriches. "Die Zerstörung ist einfach enorm. Es fehlt an allem", sagt Schroer. Die größten Teile des Gazastreifens würden wie Dresden oder Berlin im Jahr 1945 aussehen.

Kaum sauberes Trinkwasser

"In den humanitären Zonen schlafen die Menschen in riesigen Zeltlagern, von denen fast jeder Quadratmeter belegt ist. Viele sind aber auch in zerstörte Häuser zurückgezogen und wohnen in Ruinen", sagt Schroer. Es gebe in vielen Bereichen keine Wasserversorgung und kein fließendes Wasser mehr. Nur auf wenigen Häusern würden sich noch funktionierende Tanks befinden.

"Strom wird oft mit Photovoltaik erzeugt. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser ist sehr schlecht. Die Menschen werden mit Trinkwasser in LKWs versorgt, es kommt regelmäßig zu riesigen Schlangen", berichtet der Rettungsassistent. Teilweise fließe Abwasser offen durch die Straßen, weil Teile der Kanalisation und Pumpen zerstört worden seien.

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Die israelische Armee setzt ihre Angriffe in der Region fort. In der Nacht bombardierte die Luftwaffe ein Wohnhaus in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Viele Menschen im Gazastreifen und im Libanon wissen nicht mehr, wohin sie fliehen sollen.

Hohe Abhängigkeit von Importen

"Die humanitäre Lage ist extrem abhängig von Hilfslieferungen und von Importen, die Preise sind hoch. Es wird einfach nichts mehr in Gaza produziert", sagt Schroer. Es gebe Mangelernährung und eine sehr einseitige Ernährung. "Manchmal, wenn Trucks reinkommen, gibt es frisches Gemüse auf den Märkten. Aber es gibt auch Tage oder Wochen, wo es nur Dosen-Essen gibt", berichtet Schroer. Eine langfristige Lagerung von großen Mengen Essen sei nicht denkbar, denn dann komme es zu Plünderungen.

Laut Daten von "Ärzte der Welt" steigt die Zahl der unterernährten Kinder dramatisch an. Bereits jetzt sind 30 Prozent der Unter-Zweijährigen betroffen. "Die Gesundheitsversorgung ist mehr als schlecht. Die meisten Krankenhäuser sind entweder nicht mehr funktionsfähig oder stark beschädigt", sagt Schroer.

Gaza – gewaltige Sperrzone

Das größte Krankenhaus in Gaza, das Al-Schifa-Krankenhaus, wurde bei Gefechten zwischen Israelis und der Hamas zerstört. Die israelischen Streitkräfte hatten eine Kommandozentrale der Hamas unter dem Krankenhaus vermutet und fanden nach den Kampfhandlungen unterirdische Gänge.

Das verbliebene Klinikpersonal in Gaza arbeitet ständig an der Belastungsgrenze. © picture alliance/Anadolu/Saed Sabri Abu Nabhan

Über 80 Prozent des Gazastreifens wurden von den israelischen Streitkräften als Sperrzone ausgerufen. Für die 1,7 Millionen Menschen, die in Gaza auf der Flucht sind, reicht die medizinische Versorgung bei weitem nicht. "Die Bevölkerung hat sich in der sogenannten humanitären Zone konzentriert. Dort gibt es noch drei größere Krankenhäuser, die funktionieren", sagt Rettungsassistent Schroer. Die Krankenhäuser seien deshalb völlig überfüllt.

Personal ist "völlig überarbeitet"

"Es fehlt an allem. Wenn irgendwo Luftangriffe stattfinden und es zu Massenanfällen kommt, werden die Krankenhäuser überrannt", beobachtet er. Die Gesundheitsversorgung könne nur grundlegende Hilfe leisten und sei sicherlich nicht in Ansätzen adäquat für die Menge an Menschen, die dort lebten – selbst, wenn es keinen Krieg gäbe.

"Das Personal ist völlig überarbeitet. Sie wurden selbst mehrmals vertrieben, arbeiten aber immer noch als Nothelfer. Das Triage-System läuft täglich ab", sagt Schroer. Menschen mit chronischen Beschwerden wie Diabetes oder Bluthochdruck könne derzeit nicht geholfen werden.

Keine Impfungen und Medikamente

Kapazitäten für Impfungen gebe es nicht mehr, sodass Kleinkinder unter fünf Jahren kaum oder gar nicht geimpft und daher besonders anfällig für sich ausbreitende Epidemien sind. "Diagnostische Möglichkeiten gibt es kaum mehr. Sie sind sehr stark eingeschränkt und teilweise völlig zerstört. Magnetresonanz-Geräte gibt es gar nicht mehr, bei den CTs funktionieren nur noch wenige", schildert Schroer die Lage vor Ort.

Es gebe auch keine angemessene Versorgung für Verbrennungspatienten oder für Menschen mit Amputationsverletzungen. "Die Verletzungen, die wir nach Angriffen sehen, sind vor allem Brand-, Explosions- und Splitterverletzungen", beschreibt der Sanitäter.

"Gaza ist eine Trümmerwüste"

Thorsten Schroer

Immer wieder wird die Frage gestellt, wie verhältnismäßig das Vorgehen der israelischen Armee ist. Unterscheidet sie im ausreichenden Maß zwischen Zivilisten und Kriegszielen? Sind die Vorsichtsmaßnahmen ausreichend, um die Bevölkerung zu schützen? Stehen Angriffe und Kollateralschäden in einem Verhältnis zueinander?

Politisch positionieren möchte Schroer sich nicht, sagt aber: Es sei unumstritten, dass der Krieg von der israelischen Seite mit wenig Rücksicht geführt werde. "Es werden Explosionswaffen in extrem dicht besiedelten Gebieten eingesetzt, was automatisch zu sehr hohen Zahlen an Kollateralschäden führt", so der Helfer.

Hoffnungslose Stimmung

Die meisten Leute, mit denen er gesprochen habe, seien müde, erschöpft, resigniert und hoffnungslos. "Es gibt im Moment praktisch keinen Weg aus Gaza raus und es gibt keinen Plan. Da ist nichts am Horizont, wie der Konflikt gelöst werden und der Krieg aufhören könnte", sagt er.

Die Kinder in Gaza müssen besonders unter den Bedingungen des Krieges leiden. © picture alliance/Sipa USA/News Images

Selbst, wenn der Krieg jetzt aufhöre und es einen Waffenstillstand gebe, bleibe die Frage: Was dann? Was kommt danach? "Es fällt sehr schwer, sich etwas vorzustellen, weil die Zerstörung so exorbitant hoch ist. Es wäre ein kompletter Wiederaufbau nötig. Wer soll das machen, wer bezahlen? 'Erlauben' die Israelis das? ", so Schroer.

Es seien ungefähr 75 Prozent der Häuser in Gaza zerstört oder beschädigt. "Gaza ist eine einzige Trümmerwüste", sagt er. Gleichzeitig zeige die Hamas auch keine Anzeichen, zum Wohl der Bevölkerung zurückzutreten, um eine Zukunft von Gaza möglich zu machen.

Es braucht Druck von außen

"Leider kann man mit Worten die Menschen kaum mehr schocken. Aber das Ausmaß der Zerstörung scheint vielen in Deutschland nicht bewusst zu sein. Ebenso, wie viel Druck es von außen auf die Konfliktparteien braucht", schätzt Schroer.

Es gebe keine militärische Lösung in Gaza, ohne, dass alle Menschen getötet werden müssten. Es brauche internationale Unterstützung und Druck auf die Konfliktparteien, den Konflikt zu lösen – ohne ein absurdes menschliches Opfer.

"Wir müssen aus dem festgefahrenen Opfer und Täterdenken auf beiden Seiten raus. Wir müssen wieder sehen, dass Menschen Menschen sind – egal ob Israelis oder Palästinenser", so Schroer. Ein Bild ist ihm besonders im Kopf geblieben: Es ist das Bild einer Frau, die von Gaza City in den Süden wollte und dafür einen IDF-Checkpoint durchqueren musste. "Wir sind mit einer Fahrzeugkolonne an ihr vorbeigefahren, sie zog einen kleinen Karren mit ihrem Hab und Gut hinter sich her – mit einer weißen Fahne in der Hand", sagt Schroer.

Über den Gesprächspartner

  • Thorsten Schroer ist "Head of Mission" bei "Cadus" und war bereits in der Ukraine und in Gaza. Er ist ausgebildeter Rettungsassistent.

Verwendete Quellen

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