2017 wurden in Deutschland so wenig Organe gespendet wie seit 20 Jahren nicht mehr. Das Bundesgesundheitsministerium bringt deswegen die doppelte Widerspruchslösung ins Gespräch: Demnach wären alle Bundesbürger automatisch Organspender, sofern sie oder ihre Angehörigen dem nicht widersprechen. Bei Anne Will entbrannte darüber eine heftige Auseinandersetzung zwischen Befürworten und Gegnern.

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Was ist das Thema?

Jedes Jahr werden in Deutschland rund 800 Organtransplantationen durchgeführt. Das ist weit weniger als der Bedarf: Derzeit warten laut Eurotransplant über 10.000 Menschen auf ein Spenderorgan. Doch nur, wenn ein Spender seinen Willen hierzu rechtzeitig erklärt hat oder dessen Angehörige ausdrücklich einer Entnahme zustimmen, können Organe nach dem Tod transplantiert werden. So ist es in Deutschland per Gesetz geregelt.

Aber nur ein Teil der Deutschen trifft tatsächlich aktiv Vorsorge und regelt mit einem Ausweis, ob sie ihre Organe im Fall des Falles spenden möchten. Obwohl laut einer aktuellen Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) 84 Prozent der Deutschen der Organspende grundsätzlich positiv gegenüberstehen, tragen nur 36 Prozent einen Organspendeausweis mit sich. Zudem ist die Zahl der gespendeten Organe seit Jahren rückläufig. 2017 hat sie den tiefsten Stand seit 20 Jahren erreicht.

Aus diesem Grund wird in der deutschen Gesundheitspolitik wieder die Forderung nach einer Widerspruchslösung laut, wie es sie zum Beispiel in Österreich gibt. Demnach sind alle Bürger grundsätzlich Organspender, wenn sie dem nicht widersprechen.

Wer sind die Gäste?

  • Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte
  • Eckart von Hirschhausen, Arzt und Kabarettist
  • Wolfgang Huber, evangelischer Theologe
  • Ivan Klasnic, ehemaliger Fußballprofi (u.a. Werder Bremen), lebt mit einer Spenderniere
  • Alexandra Manzei, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Gesundheitssoziologie an der Universität Augsburg
  • Anita Wolf gab nach dem Tod ihres Ehemannes dessen Organe zur Spende frei

Was war das Rede-Duell des Abends?

Bei Anne Will gerieten vor allem zwei Gäste aneinander: Der Theologe Wolfgang Huber und der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach widersprachen sich mehrfach heftig. So fand Huber, dass die "Last von einigen tausend Patienten nicht auf 80 Millionen abgewälzt werden" dürfe.

Diese Meinung teilte Lauterbach nicht: "Es ist keine Last, dass ich mich zumindest mal damit beschäftige!" Der SPD-Politiker wehrte auch nachdrücklich die Behauptung Hubers ab, durch ein größeres Angebot an Organen würden künftig auch unnötige Transplantationen durchgeführt werden.

Ein weiteres Mal lieferten sie sich einen Schlagabtausch, als Huber meinte, die Organspende würde im Falle der Widerspruchslösung zu einer "Organbereitstellungspflicht" werden. Er verglich dies mit dem Wehrdienstersatz.

Es sei aber nicht das gleiche, entgegnete Lauterbach, weil man die Verweigerung des Wehrdienstes begründen musste: "Hier kann man ohne Gründe nein sagen!"

Was war der Moment des Abends?

Besonders berührend wurde die Talkshow, wenn in der theoretischen Debatte echte Schicksale erzählt wurden. So wie im Fall von Ex-Fußballspieler Ivan Klasnic, der bereits mit seiner dritten Spenderniere lebt. Die ersten beiden erhielt er als Lebendspende von seinen Eltern, später war er 18 Monate auf eine Dialyse angewiesen. "Eine Qual", wie Klasnic sagte.

Die dritte Niere bekam er schließlich von einer verstorbenen jungen Frau. "Ich kann dankbar sein, dass sie mir eine Niere geschenkt und ein normales Leben ermöglicht hat", sagte der frühere Werder-Profi. Trotzdem ist ihm bewusst, dass auch diese Niere wieder eines Tages ausfallen könnte. Und wenn er keine vierte Niere bekommt? "Dann muss ich mich mit dem Tod beschäftigen", meinte Klasnic. Sein Rat: "Jeder sollte sich damit mal beschäftigen."

Anita Wolf steht auf der anderen Seite dieses Themas, "der dunklen Seite", wie sie es nennt. Denn sie musste die Entscheidung treffen, ob die Organe ihres an einem Schlaganfall gestorbenen Ehemannes entnommen werden sollen. "Diese Situation muss man sich als Vakuum vorstellen, man kann nicht nachdenken", beschrieb sie es.

Sie habe sich sehr hilflos und unsicher gefühlt. Ihr Mann und sie hätten sich zuvor nur oberflächlich über das Thema unterhalten. Die Widerspruchslösung hätte ihre Situation aber nicht einfacher gemacht: "Ich wäre trotzdem gefragt worden." Aufklärung findet sie viel wichtiger.

Wolf hat sich schließlich für eine Organspende entschieden. Für sie bedeutet es heute Trost: "Sein Tod ist unumkehrbar. Aber er konnte drei Organe spenden und drei Leben retten. Das bedeutet auch Trost und sollte man nicht unterschätzen."

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Die Moderatorin sorgte nicht nur mit der Auswahl der Gäste (zwei Befürworter der Widerspruchslösung, zwei Gegner und zwei Betroffene) für eine ausgewogene Diskussion um ein "Thema, um das man sich gerne herumdrückt", wie es Anne Will zu Beginn der Sendung beschrieb.

Als die Sendung gegen Ende etwas aus dem Ruder geriet, weil alle durcheinander redeten, griff sie allerdings nur zögerlich ein.

Was ist das Ergebnis?

Es ist schon ein eigenartiger Widerspruch: In Krimis wie dem "Tatort" hat der Tod Unterhaltungswert. Aber die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod macht uns so viel Angst, das wir ihn am liebsten verdrängen. Ein Organspendeausweis? Den holen wir uns später.

Der Mediziner und Kabarettist Eckart von Hirschhausen erklärt sich deswegen selbst zum "Fan der doppelten Widerspruchslösung". Die Mehrheit der Deutschen sei zwar prinzipiell für die Organspende, es gäbe aber einen "Widerspruch zwischen dem erklärten Willen und dem, was dokumentiert wird".

Hirschhausen vergleicht das mit den guten Neujahrsvorsätzen, die im Alltag auch oft nicht umgesetzt würden. Sein Rezept: Ängste durch Aufklärung und Transparenz lösen.

Der Theologe Wolfgang Huber spricht sich für die Beibehaltung der aktuellen Regelung aus, denn diese würdige "die Freiheit, sich zu entscheiden, positiv". Stattdessen müsse an anderer Stelle angesetzt werden, findet Huber und erinnert an den Organspende-Skandal: "Das Vertrauen in die Transplantationsmedizin muss wiederhergestellt werden."

Der Skandal habe für mehr Kontrolle und Transparenz gesorgt, entgegnet ihm SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Wie Hirschhausen ist auch Lauterbach ausgebildeter Arzt, beide verweisen auf das Leid der schwerkranken Patienten, die durch eine Organspende weiterleben können.

"Jeden Tag sterben Menschen auf der Warteliste", sagte Lauterbach. "Jeder Einzelne zählt." Er unterstützt die Gesetzesänderung und verweist auf das Ausland: "Die Länder, die mehr Organe als wir transplantieren, haben alle die Widerspruchslösung."

Gesundheitssoziologin Alexandra Manzei hat sich persönlich gegen eine Organspende entschieden. In ihren Augen löst die Widerspruchslösung das Problem ohnehin nicht: Denn nur hirntote Menschen können überhaupt Organe spenden. Diese sind nur eine kleine Gruppe aller Todesfälle. "Selbst wenn jeder Deutsche einen Organspendeausweis hätte, gäbe es nicht genug Organe, weil es nicht genug Hirntote gibt", so Manzei.

Sie zeigt sich empört über einen Vergleich von Hirschhausen mit einer Darmspiegelung, von der der Betroffene wie bei einer Organentnahme auch nichts mitkriegen würde. Manzei zweifelt an dem gängigen Konzept, Hirntod mit dem (Herz-)Tod gleichzusetzen. "Hirntot zu sein, bedeutet warm zu sein, beatmet zu werden", sagt sie. Bei einer Organentnahme höre das Herz erst im OP auf zu schlagen. "Tote können keine Organe spenden."

Die beiden Ärzte können das nicht nachvollziehen. Nur medizinische Geräte würden bei einem hirntoten Patienten dafür sorgen, dass das Herz weiter schlage. "Wenn ich das Gerät abschalte, fängt sofort der Verfall an", betont Lauterbach. Hirschhausen versucht es dagegen mit einem Witz: "Das Gehirn ist das einzige Organ, bei dem die meisten Menschen lieber Spender als Empfänger wären."

Ob sich die beiden aber darüber im Klaren sind, dass für Angehörige der Tod eines geliebten Menschen nicht leicht zu verstehen ist, wenn dessen Herz noch schlägt? Die Organspende bleibt ein Symptom für viele Mängel im deutschen Gesundheitswesen: Vielen Menschen fehlt das Vertrauen, Angehörige benötigen in einer sehr belastenden Situation mehr Aufklärung und Beistand.

Bei Anne Will wird zudem ein Beitrag von "Report Mainz" gezeigt, der für den Rückgang der Transplantationszahlen noch ganz andere Gründe findet: schlechte Organisation oder ungenügende finanzielle Mittel für die Organentnahme. Das zeigt, dass auch die Widerspruchslösung nicht alle Probleme aus der Welt schaffen wird.

Verwendete Quellen:

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