SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach schloss am Sonntagabend bei "Anne Will" einen erneuten Lockdown im Herbst aus. Ein Pfleger wandte sich mit seiner Wutrede direkt an den Minister. Und eine Journalistin kritisierte den Bericht der Sachverständigenkommission zur Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen als "vage" und "dünn".

Eine Kritik
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Was wird der Corona-Herbst bringen, wenn schon jetzt die Inzidenzen so hoch sind? Bei "Anne Will" stritten die Gäste über Maßnahmen, vor allem einem Pfleger platzte der Kragen.

Das war das Thema

Steigende 7-Tage-Inzidenzen, steigende Corona-Erkrankungen auf Intensivstationen: Im dritten Corona-Jahr befindet sich Deutschland erstmals in einer Sommerwelle. Und das in einer Situation, in der Schutzmaßnahmen wie Test- oder die Maskenpflicht bereits enorm reduziert worden sind. Anne Will sprach mit ihren Gästen über die Bewertung der Corona-Maßnahmen durch den Sachverständigenausschuss, die altersbezogene Impfpflicht und die Abschaffung der kostenlosen Bürgertests.

Die Gäste

Karl Lauterbach: Der SPD-Gesundheitsminister geriet in der Sendung aufgrund der steigenden Zahlen gehörig unter Druck. Einen erneuten Lockdown schloss er trotzdem aus, Schulschließungen erklärte er für "sehr sehr unwahrscheinlich", die Bürgertests hätte er gern fortgesetzt, aber Deutschland habe sie sich die Kosten von zirka einer Milliarde Euro pro Monat "nicht mehr leisten können". Lauterbachs Rezept für den Corona-Herbst: eine neue Impfkampagne, mehr Echtzeitdaten wie Abwasser-Monitoring sowie der bessere Schutz von Pflegeeinrichtungen.

Christine Aschenberg-Dugnus: Die FDP-Gesundheitspolitikerin verkaufte die Ergebnisse des Sachverständigenausschusses zur Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen als Erfolg. Der Bericht habe Anstöße für die Reparlamentisierung der Debatte gegeben, erklärte sie. Schulschließungen lehnte sie vehement ab, man dürfe nicht wieder die Instrumente von vor zwei Jahren auspacken. "Kinder und Jugendliche", stellte die FDP-Frau fest, "das waren die Verlierer der Pandemie".

Ricardo Lange: Der Intensiv-Pfleger empörte sich darüber, dass Pflegekräfte während der Corona-Zeit in Kurzarbeit geschickt wurden und benannte zahlreiche weitere Missstände. Lauterbach sagte, man mache die Pflege nicht besser, wenn man sie schlecht rede. "Wir machen die Pflege nicht besser, wenn wir die Situation schönreden", hielt Lange dagegen.

Christina Berndt: Die Wissenschaftsredakteurin der "Süddeutschen Zeitung" übte scharfe Kritik am Bericht der Sachverständigenkommission. Er sei "vage", besonders die Aussagen zur Evaluierung der Maßnahmen seien "dünn" gewesen. "Es hat keinen Erkenntnisgewinn gebracht." Berndt bemängelte eine Kultur in Deutschland, wo traditionell nicht genug Daten erhoben würden. Dabei wäre das bei Corona – siehe Abwasser-Monitoring – teilweise datenschutzrechtlich völlig unbedenklich.

Das war der Moment des Abends

Beim Thema Impfpflicht sprach der sonst an diesem Abend vorsichtig abwägende Karl Lauterbach Klartext: "Die vierte Impfung ist absolut sinnvoll", appellierte er an die Bürger. Damit könne die Sterblichkeit bei den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen deutlich gesenkt werden.

Das war das Rededuell des Abends

Bei der Wutrede von Pfleger Ricardo Lange saß Lauterbach etwas bedröppelt blickend auf seinem Stuhl. "Wir gehen jedes Mal unvorbereitet in diese Herbstwelle", schimpfte Lange. "Worauf warten Sie noch?". Lange bemängelte insbesondere den Personalmangel in der Pflege, über den im Sommer niemand reden wolle. "Wir sind jetzt im dritten Jahr der Pandemie, Herr Lauterbach!"

Der Angesprochene rühmte sich zunächst mit dem Pflegeentlastungsgesetz, dessen Eckpunkte noch vor dem Sommer kommen sollen, gab Lange aber in wesentlichen Punkten Recht. Und das Gefühl, nicht allein dazustehen mit seiner Kritik.

Doch Lange, dessen Gesichtsfarbe langsam ins Rote wechselte, war die gefühlt 20. Minister-Erklärung in den letzten zehn Jahren zur Verbesserung der Pflegebedingungen nicht genug. "Es ist ja kein Personal da. Die ganzen Kliniken bescheißen nämlich. Da steht nur auf dem Papier, das ist genug Personal da", behauptete er. Es werde Personal einberechnet, dass überhaupt nicht am Bett stehe."

Lauterbach ging zunehmend in die Offensive, "bei allem Respekt" gegenüber Lange natürlich. "Zehn Jahre ist gar nichts passiert. Jetzt heißt es, es kommt nicht vor der Sommerpause", regte er sich über die Kritik an seinem Kurs auf. Dieses Duell ging Unentschieden aus.

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So hat sich Anne Will geschlagen

Ein Talk-Sonntag, an dem die Gastgeberin an vielen Fronten gefordert war. "Hat die FDP absichtlich viel Zeit verstreichen lassen?", bohrte sie bei Lauterbach nach. Wohl wissend, dass der Minister den bremsenden Kurs der Liberalen bei den Anti-Corona-Maßnahmen an sich kritisch sieht. Doch Lauterbach ließ sich nicht aus der Reserve locken, höchstens durch kleine Andeutungen oder einen Versprecher, und berief sich auf die gute Zusammenarbeit in der Koalition. Trotzdem traf Will hier genau ins Schwarze, weiß sie doch um die Unterschiede zwischen Lauterbachs Warnungen als "Mahner der Nation" und seiner Politik als Minister.

Kritikpunkt: Am Ende der Sendung wirkte die Gastgeberin ein wenig alarmistisch, als sie fragte, wie man sich auf die "schrecklichste Variante ever von Corona" einstellen solle. Bislang sieht es nicht so aus, als ob der in Deutschland nun dominante Omikron-Subtyp BA.5 zu mehr schweren Erkrankungen führt.

Das ist das Fazit

Karl Lauterbach will den Ländern künftig viele Möglichkeiten geben, sich für alle möglichen Szenarien – unbedenklichere und gefährlichere Varianten des Virus – vorzubereiten. Er wolle jedoch nicht öffentlich über die anderen Maßnahmen spekulieren. Für Aschenberg-Dugnus von der FDP steht vor allem eines fest: "Es muss verfassungsmäßig sein." Eine Impfpflicht ab 60 lehnte sie ab, weil es in dieser Gruppe zu wenig Infizierte gebe.

Pfleger Ricardo Lange ist kein großer Freund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, wie er anklingen ließ. Verstöße werden bislang von den Behörden sowieso fast überhaupt nicht verfolgt. Lange wirkte trotz seines engagierten Auftritts am Ende ein wenig resigniert. Man merkte ihm an, dass er schon viele blumige Minister-Reden über die Verbesserung der Pflegebedingungen gehört haben muss.

Insgesamt war die Stimmung der Runde hinsichtlich des Corona-Herbstes erstaunlich gelassen. Auch Karl Lauterbach verstieg sich – vermutlich fiel ihm das sehr schwer – nicht in Ankündigungen, wie katastrophal alles werden könnte. In Jahr drei der Pandemie ist ein gewisser Gewöhnungseffekt nicht von der Hand zu weisen. Die meisten Bürger haben sich an Corona und die Begleitumstände gewöhnt. Und das spiegelte sich an diesem Abend auch in den Expertenmeinungen wider.

Am alarmistischsten klang da noch Gastgeberin Anne Will mit ihrer "schrecklichsten Variante ever". Doch damit schafft sie es auch nicht, ihre Gäste an einem lauwarmen Talk-Abend hinter dem Ofen hervorzulocken.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde berichtet, Deutschland könne sich laut Lauterbach die Kosten für Bürgertests von zirka einer Milliarde Euro am Tag "nicht mehr leisten". Richtig ist, dass Lauterbach die Kosten mit einer Milliarde Euro pro Monat bezifferte.

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