Was ist wichtiger: Das subjektive Sicherheitsempfinden oder die kalte Statistik? Darum dreht sich die Debatte bei "Maischberger". Ein Jens-Spahn-Klon argumentiert mit der Angst, ein Kriminologe fremdelt mit den Emotionen.

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Es wirkt ja nicht gerade so, als wenn Jens Spahns Ego das nötig hätte. Aber wenn er sich an Medienpräsenz berauscht, dann dürfte er nach der "Maischberger"-Sendung am Mittwochabend mit einem gehörigen Kater aufwachen.

Der Minister - den die "Bild"-Zeitung den "Groko-Minister" nennt, weil er sich offensichtlich für mehr als das Gesundheitsressort berufen fühlt - muss mittlerweile nicht einmal mehr selbst in einer Talkrunde sitzen, um die Diskussion zu bestimmen.

"Angst auf der Straße: Muss der Staat härter durchgreifen?", fragte Sandra Maischberger in der jüngsten Ausgabe ihrer Talkshow und zitierte gleich zur Begrüßung das viel diskutierte Interview Spahns aus der vergangenen Woche, in dem er dem Staat vorwarf, in manchen Vierteln "Recht und Ordnung nicht durchsetzen" zu können.

Spahns Anwesenheit war auch gar nicht vonnöten, er wurde vertreten von einer jüngeren Kopie seiner selbst: dem CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor, bislang vor allem bekannt für sein Alter (25 Jahre) und die Nähe seines Wahlkreises zu dem der Kanzlerin.

Für diejenigen, die Anklam, Ueckermünde und Umgebung nicht genau verorten können, gab Amthor nebenbei ein bisschen Erdkunde-Nachhilfe: Wenn bei ihm an der polnischen Grenze Landwirten zum dritten Mal die Maschinen geklaut würden, sagte er, brauche er den Bauern auch nicht mit der Kriminalitätsstatistik zu kommen. "Es geht um subjektives Sicherheitsempfinden."

Damit war das Thema des Abends schon gesetzt: Die Angst vor Kriminalität vs. tatsächliche Kriminalität, Gefühle gegen Zahlen, Vereinfachungen gegen Differenzierung.

"Deutschland war ein sicheres Land"

Zwei Drittel der Deutschen, zitiert Maischberger eine Studie, hätten Angst, Opfer einer Straftat zu werden. Eine Angst, die teilweise 60 mal so hoch sei wie die tatsächliche Gefahr, entgegnet der Kriminologe Thomas Feltes, der in der emotionalen Debatte teilweise wirkt wie ein Vulkanier unter Hochsensiblen.

Die Unternehmerin Emitis Pohl berichtet von ihren Erlebnissen in der Kölner Silvesternacht, von der Angst, die sie seitdem umtreibt. Vom Pfefferspray, das sie für sich und ihre Töchter gekauft hat.

Pohl kam mit 13 Jahren aus dem Iran nach Deutschland. "Es war ein sicheres Land damals. Heute ist es das für mich nicht mehr." Zwar ist seitdem nichts mehr passiert, erzählt sie, aber die Angst ist da.

Eine, die ihr Thomas Feltes mit seinen Zahlen nicht nehmen kann: "Statistisch gesehen ist es unwahrscheinlich, dass ihr noch einmal so etwas passiert. Aber das hilft ihr nicht weiter."

Bodo Pfalzgraf von der Polizeigewerkschaft DPolG erzählt, dass die Polizei manchmal sogenannte "Susi"-Einsätze fahre - zur Stärkung des subjektiven Sicherheitsempfindens der Bevölkerung.

Für dieses "Placebo", wie es Maischberger nennt, seien allerdings oft nicht genug Kräfte da. Ein Grund, warum das "Susi" abnimmt. CDU-Mann Amthor zählt weitere auf: mehr ungleiche Sicherheit, Nachrichten über Hotspots wie den Görlitzer Park in Berlin und der Anstieg von Sexualdelikten. Widerspruch von Feltes: "Wir haben weniger Sexualdelikte, aber wir haben Politiker, die Angst machen."

"In Bayern läuft das"

Wer also ist schuld daran, dass 13 Prozent der Frauen sich nur noch mit Pfefferspray oder Reizgas aus dem Haus trauen, dass über 60 Prozent bestimmte Parks oder Plätze meiden?

Vielleicht die Politik, die wie Jens Spahn Panik mache? "Er hat ja nicht dazu aufgerufen, sich zu bewaffnen. Es war ein Appell an den Bund, an die Politik", sagt Amthor - und fängt sich dabei einen Konter der Gastgeberin ein: "Wie lange führt die Union jetzt das Innenministerium?"

Seit 2005, Amthor weiß das natürlich, lenkt die Aufmerksamkeit aber lieber nach Bayern, "da läuft das" - und bei der Bundespolizei habe man 2015 die "Trendwende" geschafft.

Wie der Trend aussieht, hat das Portal "Buzzfeed" recherchiert:

Der Personalbestand ist ohnehin seit Jahren konstant - die zusätzlichen 7.500 Stellen, die der Koalitionsvertrag verspricht, seien bei Lichte betrachtet nicht unbedingt nötig.

Ein recht lockeres Verhältnis zu Fakten und Zahlen, das Amthor zur Tugend erhebt: "Gute Politik beginnt nicht mit dem Betrachten einer Statistik, sondern der Betrachtung der Realität". Ein Satz, den man erst einmal sacken lassen müsste, wofür in der engagierten, wenn auch nicht überhitzten Runde aber keine Zeit blieb.

Amthor gewichtet die Einzelfälle über die aggregierten Erkenntnisse, was ihm den Abend leichter macht: Silvester in Köln, G20 in Hamburg, der Mord am Ebert-Platz in Köln, Schlagworte reichen ihm aus, um eine Sicherheitslage zu zeichnen, die von der Statistik nicht gedeckt wird, aber starke Bilder hervorruft.

Was tun mit "verwahrlosten Orten"?

Am Ebertplatz betreibt Hayko Migirdicyan ein Büdchen. In Maischbergers Runde erzählt er von Dealern, die abends wieder bei ihm einkaufen, wenn sie nachmittags von der Polizei mitgenommen wurden. "Die lachen uns aus", ruft Emitis Pohl immer wieder.

Nicht einmal Ex-Innenminister Gerhart Baum, wie stets tapferer Verteidiger des Rechtsstaats, greift da noch ein, um die Grundzüge dessen zu erklären, worauf Philipp Amthor mit seiner Deutschland-Flagge am Revers angeblich so stolz ist: Die Verfassung, die unter anderem die Unschuldsvermutung möglich macht. Oder die Prinzipien der Bestrafung – die sich eben nicht nur um Vergeltung drehen, sondern auch Prävention und Resozialisierung.

Erst ganz zum Schluss macht Maischberger einen Punkt auf, der noch nicht einhundert mal rauf und runter diskutiert wurde: die "Verwahrlosung" von Orten wie eben dem Ebertplatz. Statt über die Ursachen zu reden – kaputtgesparte Kommunen, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit – und so zu möglichen Problemlösungen zu kommen, blieb die Runde allerdings zunächst in ihrer Sicherheitslogik gefangen.

Der hängt auch Nordrhein-Westfalens neue Regierung an, die eine "Null-Toleranz-Strategie" verfolgen will, angelehnt an die Politik New Yorks unter Rudy Guliani in den 1990er Jahren.

Die Erfolge waren offensichtlich: Die Mordrate sank von 2000 auf 400 pro Jahr, unsichere Parks und U-Bahnen wurden befriedet. Kriminologe Feltes sieht darin kein taugliches Vorbild: Die Kriminalität habe sich im Ergebnis nur innerhalb New Yorks verlagert, die Polizei sei vorher in einem schlechten Zustand gewesen, anders als die deutsche Polizei jetzt.

Er plädiert eher für weniger Polizei, wo sie nicht hingehört: Verwahrloste Gegenden könne man mit Sozialarbeitern auf Vordermann bringen und mit Stadtteilpolitik.

Außerdem könnten leichte Drogen wie Cannabis legalisiert werden. "Mit der Polizei kriege ich keinen Drogenabhängigen dazu, weniger Drogen zu nehmen. Das ist ein Fall für die Gesundheitspolitik." Also zurück zu Jens Spahn.

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