In Deutschland gibt es zu wenig Spenderorgane. Die Bundesregierung will nun das Spenden von Nieren erleichtern. Es soll bald auch für Menschen möglich sein, die sich nicht persönlich nahestehen, wie dies bisher vorgeschrieben ist. Was sagen Experten dazu?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Freckmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Wenn jemand dialysepflichtig wird, wartet die Person im Schnitt in Deutschland acht bis zehn Jahre auf das Organ eines Verstorbenen", sagt Mario Schiffer, Klinikdirektor an der Uniklinik Erlangen und Transplantationsmediziner. Dass in Deutschland zu wenige Spenderorgane existieren, ist seit Jahren bekannt. Und die Wartelisten sind dementsprechend lang.

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So warteten Ende 2023 immerhin 8.716 Personen, die als transplantabel eingestuft werden, auf ein für sie lebenswichtiges Organ, wie die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) mitteilte. Dem gegenüber steht die Zahl von 3.646 Organen, die im Jahr 2023 in Deutschland transplantiert wurden. Besonders Nieren werden in Transplantationszentren benötigt. 6.513 Menschen, die als transplantabel eingestuft werden, warteten Ende 2023 auf ein solches Organ. Mit 871 Personen folgte dann mit großem Abstand die Gruppe der Patienten, die eine Leber benötigten. Weitere Organe, die transplantiert werden können, sind Lunge, Herz, Bauspeicheldrüse und Darm.

Nicht nur nach dem Tod Organe spenden

In den bisher meisten Fällen findet eine Transplantation dann statt, wenn der Hirntod des Spenders festgestellt wurde. Wenn also ein Mensch verstirbt, der sich vorher zur Spende bereit erklärt und sich in einer Situation befunden hatte, in der Ärzte noch rechtzeitig handeln konnten. Neben der Organspende im Todesfall des Spenders, den postmortalen Spenden, gibt es aber noch eine andere Möglichkeit, ein Organ zu spenden und ein neues zu bekommen.

Dabei handelt es sich um die sogenannte Lebendspende. Anders als in den weitaus meisten Fällen ist der Spender hier nicht verstorben. Menschen spenden dann eines ihrer Organe, ohne das sie dann noch weiterleben können. Ein prominentes Beispiel hierfür ist etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er spendete im Jahr 2010 seiner Frau eine seiner Nieren.

Doch dieses Verfahren ist noch immer gegenüber den sogenannten postmortalen Spenden weit in der Minderheit. Von den genannten 3.646 transplantierten Organen im Jahr 2023 stammten nur 658 aus einer Lebendspende. Dies entspricht einem Anteil von 18 Prozent aller Spenden. Darunter befanden sich allein 608 transplantierte Nieren. Haben die Nieren-Lebendspenden in Deutschland nach Angaben der DSO einen Anteil von knapp 29 Prozent unter allen Nierenspenden, liegt er in der Schweiz bei etwa 40 Prozent. Dies meldet das schweizerische Bundesamt für Gesundheit.

Eine Lebendspende für die Liebsten

Dies dürfte maßgeblich auch an der gesetzlichen Situation in Deutschland liegen. Denn bisher können zwei Menschen einander nur lebend ein Organ spenden, wenn sie sich persönlich nahestehen. Dies bedeutet in der Regel, dass sie verheiratet sind oder in einem anderem familiär-engen Verhältnis stehen.

Bei einer Lebendspende wird deswegen im Umfeld des Patienten nach einem geeigneten Spender gesucht. Dieser müsse gesund sein, betont Mario Schiffer von der Uniklinik Erlangen. Die Person dürfe keine Grunderkrankungen haben, wie etwa schweren Bluthochdruck, Diabetes oder Übergewicht. Solche Erkrankungen würden die Gesundheit des Patienten im Verlauf seines Lebens mit nur noch einer verbliebenen Niere gefährden.

Eine solche Lebendspende kann aber auch in einer Paar-Beziehung unmöglich werden. Etwa beispielsweise, wenn ein Paar gemeinsame Kinder habe, könne dies unter Umständen vorkommen, betont Schiffer. Dann könne es sein, dass die Frau Antikörper gegen Oberflächenmerkmale des Spenders, also ihres Mannes, entwickelt habe. Der Mann dürfe seiner Frau aus immunologischen Gründen in diesem Fall nicht spenden, sagt der Arzt von der Uniklinik Erlangen. "Dann können die Betroffenen nur abwarten, bis ein geeignetes Organ von einem Verstorbenen zur Verfügung steht."

Transplantationsmediziner Mario Schiffer kritisiert, dass sich Menschen in solch einer Situation oft genötigt sehen, anderweitig Auswege suchen zu müssen. "Leider ist es oft so, dass manche Patienten sich dafür an Transplantationszentren in Nachbarländern wenden", sagt Schiffer. "Das ist ein Zustand, der nicht mehr haltbar ist."

Überkreuzspende statt Lebendspende?

Durch eine Überkreuzspende, wie sie die Bundesregierung nun plant, würde dieses Problem jedoch umgangen, sagt der Medizinprofessor aus Erlangen. Ein solches Verfahren bringe eine "bessere Lebenserwartung und eine höhere Lebensqualität im Vergleich zur Dialyse", erklärt Schiffer. In dem Fall würde für ein Paar, das ein Organ braucht, ein weiteres Paar gesucht. Man vertauscht hierbei Spender und Empfänger. Der Spender des einen Paares spendet für den Empfänger des anderen Paares – und umgekehrt. Dann gibt es bei der Spende keine Probleme mit einer Abwehr durch das jeweils andere Immunsystem.

Auch der leitende Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral und Transplantationschirurgie an der Medizinische Hochschule Hannover, Markus Quante, blickt positiv auf das Vorhaben des Gesundheitsministeriums. "Anhand der Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen die Überkreuz-Lebendorganspende bereits etabliert ist, ist durch deren Einführung auch in Deutschland mit einem spürbaren Anstieg der Anzahl an Lebendspende-Nierentransplantationen zu rechnen", sagt Quante. Bisher komme, so der Facharzt aus Hannover, etwa bei einem Drittel aller potenziellen Lebendspender aus immunologischen Gründen letztlich eine Spende und Transplantation nicht zustande.

Um diese Möglichkeit einer Überkreuz-Lebendspende umsetzen zu können, müsse eine zentrale nationale Vermittlungsstelle geschaffen werden. Wichtig sei auch Transparenz bei der Zuteilung und Auswahl von Spendern und Empfängern, fordert Quante. Dies sei entscheidend, "um der Gefahr des Organhandels strikt zu begegnen". Ebenso müsse die Freiwilligkeit der Organspende weiterhin absolute Voraussetzung sein, sagt der Hannoveraner Oberarzt. Dies sei wichtig, "um das Vertrauen der Gesellschaft in den komplexen Prozess der Organspende weiter zu stärken".

Mit Blick auf eine mögliche Übertragung dieser Regelung auf andere Organe spricht sich Quante dafür aus, dass zuerst die klinischen Erfahrungen bei Nierentransplantationen nach diesem Verfahren abgewartet werden sollten, um zu prüfen, ob diese Regelung auf Verfahren für andere Organe übertragen werden könne.

Über die Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Mario Schiffer, Direktor, Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Nephrologie, Hypertensiologe (DHL), Zusatzbezeichnung Transplantationsmedizin am Universitätsklinikum Erlangen
  • PD Dr. med. Markus Quante, Leitender Oberarzt in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

Verwendete Quellen

Kurioser Vorschlag: Lotterie gegen Organspender-Mangel

In Deutschland herrscht seit Jahren ein eklatanter Mangel an Spenderorganen. Zwei Wirtschaftswissenschaftler haben jetzt eine kuriose Idee, mit der sich das Problem vielleicht lösen lassen könnte. © ProSiebenSat.1
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