Über 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht - so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Nur ein winziger Bruchteil von ihnen kommt als Asylbewerber nach Deutschland. Hier stellen sie viele Städte und Gemeinden vor große Herausforderungen, rufen bei manchen Menschen Angst und Misstrauen hervor - aber auch eine überwältigende Hilfsbereitschaft. Unsere Reporterin hat vor Ort erlebt, wie eine bayerische Kleinstadt auf die neuen Nachbarn reagiert.

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Plötzlich sind sie da: Mehrere Rettungswagen des Roten Kreuzes und des Technischen Hilfswerks versperren die Straßen, rund 70 Ehrenamtliche schleppen Feldbetten. Alle packen mit an, es muss schnell gehen: Am Abend werden 100 neue Asylbewerber erwartet. Sie brauchen Essen, einen Platz zum Schlafen. Eine verlassene Grundschule in der Innenstadt von Fürstenfeldbruck wurde deswegen zum Notquartier erkoren. Die leerstehenden Klassenräume werden in behelfsmäßige Schlafsäle verwandelt, auf dem Hof mobile Duschen und Toilettenhäuschen aufgestellt, die von dem Notfalleinsatz besorgten Nachbarn beruhigt. Innerhalb von vier Stunden ist alles fertig. An den Fenstern kleben noch fröhlich lachende Schneemänner, wie ein Gruß der früheren Grundschüler. Sie machen die grauen Fassaden etwas lebendiger und heißen die neuen Bewohner willkommen.

Zahlreiche Kommunen in Bayern mussten sich dieses Jahr angesichts der in die Höhe geschnellten Flüchtlingszahlen im Krisenmanagement bewähren. 135.634 Menschen stellten in Deutschland allein zwischen Januar und Oktober einen Erstantrag auf Asyl. Ähnliche Zahlen gab es zuletzt Mitte der 1990er-Jahre. Danach kamen immer weniger Flüchtlinge, die Zahl der Erstaufnahmeeinrichtungen wurde reduziert. Nun werden dringend geeignete Unterkünfte gesucht.

In München landen jeden Tag bis zu 300 Flüchtlinge

Die für 650 Personen ausgelegte Bayernkaserne in München war monatelang völlig überfüllt. Zeitweise lebten geschätzt 2.500 Asylbewerber dort, schliefen mitunter in Garagen oder im Freien. "Die Mitarbeiter waren überfordert", sagt der Fürstenfeldbrucker Landrat Thomas Karmasin und rückt seine Brille zurecht. Sein Büro wirkt selbst ein wenig improvisiert, im Landratsamt wird gerade umgebaut. Der CSU-Politiker ist Mitglied im Münchner Krisenstab, der wegen der sich verschärfenden Situation der Flüchtlinge einberufen wurde. "Man hätte eher sehen müssen, dass die Regierung von Oberbayern das personell nicht mehr alleine hinkriegt", bemängelt er.

In München kreuzen sich zwei Flüchtlingsrouten, jeden Tag kommen 100 bis 300 Menschen an. Für sie müssen im Umland Ausweichmöglichkeiten geschaffen werden. Doch die rechtliche Situation sei extrem schwierig, so Karmasin, da die Asyl-Unterkünfte hohe Auflagen erfüllen müssten. Nach der Schließung der Bayernkaserne im Oktober kam es zu der Hauruck-Aktion mit dem Notquartier in Fürstenfeldbruck. "Für diese Menschen wurde dringend ein Dach über den Kopf gebraucht", erklärt der Landrat.

Inzwischen werden Asylbewerber in Fürstenfeldbruck nicht mehr in der improvisierten Unterkunft in der Grundschule untergebracht, sondern im örtlichen Fliegerhorst. Der Bundeswehrstandort in der 36.000-Einwohner-Stadt soll bald geschlossen werden, viele Gebäude stehen leer. Einst wurde der Fliegerhorst von den Nationalsozialisten errichtet, um die Wehrmachtspiloten für den Luftkrieg auszubilden. Jetzt beherbergt ein Teil der früheren Kasernen bis zu 600 Flüchtlinge.

"Man muss sie wie Menschen behandeln, dann gibt es keine Probleme"

Für die Wachleute am Tor des Militärgeländes ist der Job in der Asylbewerberunterkunft Routine. Es gibt wenig zu tun. Der Eingang liegt etwas versteckt an einem Feld, Zäune und dichte Büsche verhindern neugierige Blicke von Spaziergängern. Angrenzende Häuser gibt es nicht, die nächsten Nachbarn, meist Soldatenfamilien, leben auf der anderen Seite des Fliegerhorstes. Flüchtlinge kehren von Ausflügen oder Einkäufen zurück. Sie grüßen freundlich, zeigen bereitwillig ihre Tüten und Taschen vor, um sie von den Sicherheitsleuten kontrollieren zu lassen. "Man muss sie nur wie Menschen behandeln, dann gibt es keine Probleme", sagt einer der Wachmänner. Ein junger Mann auf einem blauen Fahrrad scheint sich schon eingelebt zu haben. "Servus", ruft er im Vorbeifahren.

Den meisten Asylbewerbern droht in ihrer Heimat Krieg, Gewalt, Hunger. Manche haben fast alles verloren. Jeder fünfte Antragsteller kommt derzeit aus Syrien, dahinter folgen Menschen aus Serbien, Eritrea, Afghanistan und dem Irak.

Ein Asylbewerberheim? Nicht bei mir!

Auch wenn sie nun eine vorübergehende Bleibe haben: Das größte Problem ist immer noch der Wohnraum. Asylbewerber verbringen nur eine begrenzte Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung. Danach sollen sie in dezentralen Unterkünften, zum Beispiel Wohnungen, unterkommen. Doch viele Vermieter scheuen sich offenbar vor den Flüchtlingen.

Asylbewerber rufen oft Ängste und Skepsis hervor – auch in Fürstenfeldbruck. Darauf angesprochen, lehnt sich Landrat Karmasin in seinem Sessel zurück. "Wir sind ein Land, das nicht mehr gewohnt ist - und deswegen auch nicht mehr bereit ist - Opfer zu bringen", drückt er es vorsichtig aus. Der 52-Jährige erzählt von Zuschriften, die er nach der Ankunft der Flüchtlinge erhalten hat. "Ich habe ein schönes Grundstück gekauft, das war so teuer. Jetzt ist da ein Asylbewerberheim in der Nähe und es ist weniger wert", fasst Karmasin den Ton der Beschwerden zusammen. Wer sich für die Menschen Zeit und ihre Sorgen ernst nehme, stoße aber auch auf viel Verständnis.

Viele Ängste sind unbegründet. Die Polizei habe bisher keine Auffälligkeiten gemeldet. Außerdem werden alle Ankömmlinge sofort medizinisch untersucht, die Gefahr von ansteckenden Krankheiten sei also gering. Eine Einschleppung von Ebola ist unwahrscheinlich, da das Virus beim Überträger auf den meist langen Fluchtwegen schon früher ausbrechen würde.

Welle der Hilfsbereitschaft

Und es gibt ja auch die andere Seite: Die in den Medien gezeigten Bilder von IS-Terror, Armut und Elend aus dem Nahen Osten und aus Afrika haben offenbar Solidarität mit den Betroffenen ausgelöst. Die Fürstenfeldbrucker haben eifrig Kleidung gespendet. So viel, dass das Rote Kreuz keine Spenden mehr annimmt. Sie kommen mit dem Sortieren nicht nach. "Die Hilfsbereitschaft ist gewaltig und überrollt uns derzeit", staunt Birgit Epp vom örtlichen Helferkreis Asyl. Mehrere Dutzend Menschen haben sich bei ihr gemeldet und ihre Hilfe angeboten. Das habe sie nicht erwartet, erzählt sie lachend.

Freiwillige bieten in der Erstaufnahmeeinrichtung Kinderbetreuung, Sport- und Beschäftigungsmöglichkeiten an. Auch Deutschunterricht und Integrationskurse sollen zur Verfügung stehen. Denn die Flüchtlinge sind während ihres Verfahrens zur Untätigkeit verdammt. Gespräche und Spiele reißen sie aus der Lethargie und der Unsicherheit im fremden Land. Später kommen noch Unterstützung bei Behördengängen, Arztbesuchen und der Wohnungs- und Arbeitssuche hinzu. Die Verständigung sei kein Problem. "Es findet sich immer irgendeiner, der Englisch kann", erklärt Epp. Sie hat den Eindruck, dass sich viele Helfer für das Versagen der Politik schämen. "Sie denken: Uns geht es so gut, aber wir können nicht mal die Asylbewerber richtig unterbringen", meint sie.

"Tun wir wirklich alles, was wir tun könnten?", fragte Bundespräsident Joachim Gauck zur Flüchtlingssituation in seiner Weihnachtsansprache vergangenes Jahr. Ein Blick auf Fürstenfeldbruck zeigt: Auch im neuen Jahr muss darauf jeden Tag eine Antwort gefunden werden.

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