• Die Bahn leidet unter mangelnder Finanzierung und Personalproblemen.
  • Experten machen den jahrelangen Sparkurs bei der Bahn dafür verantwortlich.
  • Erhöhtes Reiseaufkommen durch Neun-Euro-Ticket und hohe Benzinpreise trifft auf Investitionsbedarf und viele Baustellen bei der Bahn.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Freckmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Außerplanmäßige Halte, Umleitungen, Schienenersatzverkehr. Wer derzeit mit der Bahn fährt, erlebt das häufig. Bahnchef Lutz erklärte kürzlich, dass die Auslastung des Streckennetzes ohne Baustellen schon bei 125 Prozent liege. Wenn Bauarbeiten hinzukämen, würde sie deutlich auf über 150 Prozent ansteigen. Diese hochbelasteten Bereiche müssten demnächst generalsaniert werden.

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Folgen des jahrelangen Sparkurses bei der Bahn werden sichtbar

Dass die Eisenbahn in Deutschland in diesen Zustand gekommen ist, hat viele Gründe. Stefan Mousiol von der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) sieht die Hauptursache darin, dass die Bahn "kaputt gespart" wurde. Für die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn habe der lange geplante Börsengang in den letzten Jahren immer an erster Stelle gestanden. Die Folge davon seien bis heute sichtbar: "Personalmangel, defektes Material und fehlende Züge". So fehlten etwa viele Monteure in den Werkstätten. Deswegen stünden viele Züge dort, ohne repariert werden zu können.

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Ein weiteres Problem sei, dass sich die Konzernführung sehr stark auf ihre "Leuchtturmprojekte" wie etwa Stuttgart21 konzentriere. Darunter leide die Qualität der Bahnstrecken in der Fläche, so Mousiol weiter.

Nicht zuletzt würde die fortlaufende Kürzung des Streckennetzes dazu führen, dass die Probleme im Schienenverkehr stetig zunähmen. Der Verkehrsbündnis "Allianz pro Schiene" weist darauf hin, dass das Streckennetz seit 1994 von 44.600 km im Jahr 2020 auf 38.400 km zurückgegangen ist. Gleichzeitig sei jedoch die Verkehrsleistung im selben Zeitraum um 50 Prozent angewachsen.

Experten verlangen die Bevorzugung der Schiene vor der Straße

Das Ergebnis von Personalmangel und den baulichen Renovierungsarbeiten ist, dass der Finanzierungsbedarf bei der Bahn enorm hoch geworden ist. "Für die Bahn brauchen wir die gleiche Summe an Geld, wie jetzt für die Bundeswehr.", sagt Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband "Pro Bahn". Bei der Bahn gäbe es beispielsweise noch Stellwerke aus "Kaisers Zeiten". Der Lobbyverband "Pro Schiene" hat ausgerechnet, wie viel Deutschland pro Einwohner für die Bahn ausgibt. Im Jahr 2020 investierte der Bund 88 Euro pro Kopf in die Bahn. Zum Vergleich: In der Schweiz waren es zum selben Zeitpunkt 440 Euro pro Kopf.

Dies hat Folgen für die Pünktlichkeit des Schienenverkehrs. Denn wenn sich Schienen in einem schlechteren Zustand befänden, müssten die Züge aus Sicherheitsgründen langsamer fahren, erklärt Naumann von Pro Bahn. Dies bringe dann den Fahrplan durcheinander. Doch Geld allein löse die Probleme nicht. Eine der Hauptursachen für die nur langsam vorangehende Modernisierung liege, so Naumann weiter, in bürokratischen Hindernissen. "Wenn Sie den Bahnsteig erhöhen oder verlängern wollen, brauchen Sie meistens ein Planfeststellungsverfahren. Bei einem Bürgersteig, der tiefer werden soll, brauchen Sie das nicht." Die Politik müsse daher diese Hürden beseitigen und die Schiene der Straße bevorzugen.

Klimaschutzziele, hohe Benzinpreise und Bahn-Modernisierungsbedarf kommen zusammen

In der aktuellen Situation steht die Politik vor der Aufgabe, gegensätzliche Interessen zusammenzubringen: Einerseits verleiten die gestiegenen Benzinpreise viele Menschen dazu, auf die Bahn umzusteigen. Klimapolitisch entspricht dies ohnehin den Zielen der Bundesregierung und hierbei insbesondere denen der mitregierenden Grünen. Dem gegenüber steht aber der hohe Modernisierungsbedarf der Bahn in Personal und Infrastruktur.

Durch das Neun-Euro-Ticket ist das Reiseaufkommen zusätzlich noch gestiegen. Stefan Mousiol von der GDL begrüßt dieses Ticket zwar grundsätzlich, bemängelt aber, dass es zum ohnehin überlaufenen Pfingstwochenende eingeführt wurde. Er wünscht sich vielmehr eine Lösung, welche das ganze Jahr über gilt. Am vergangenen Wochenende äußerte sich bereits Grünen-Chefin Ricarda Lang zu einer möglichen Ausweitung des Neun-Euro-Tickets für Herbst und Winter.

Karl Peter Naumann von Pro Bahn weist aber noch auf einen weiteren Punkt hin, wenn es um eine langfristig gedachte "Verkehrswende" geht. Bei einem möglichen 365-Euro Ticket müsse auch zusätzliche Infrastruktur gebaut werden. Hierzu zählen etwa Busspuren und Abstellmöglichkeiten für Fahrräder. Um die Menschen stärker zur Bahn zu bekommen, bemüht Naumann einen Satz, der ursprünglich aus der Umweltbewegung stammt. Die Verkehrspolitik müsse "‘Verringern, vermeiden, verlagern‘. Doch das Neun-Euro-Ticket dient bestenfalls dazu, zu verlagern."

Verwendte Quellen:

  • Interview mit Stefan Mousiol, Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL)
  • Interview mit Karl-Peter Naumann, Fahrgastverband Pro-Bahn
  • Daten vom Verkehrsbündnis "Allianz pro Schiene"
  • deutschebahn.com: Von überlasteter Infrastruktur zum Hochleistungsnetz: DB will Schiene fit für Wachstum und Verkehrsverlagerung machen
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