Der Kreml erneuert seine Atomwaffendoktrin und senkt die Hemmschwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen. Neu ist vor allem ein Absatz, der die Verbündeten von Atommächten betrifft. Politikwissenschaftler Frank Sauer erklärt, was die neue Atomwaffendoktrin bedeutet, was sie mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato zu tun hat und welche Rolle das AKW in Saporischija spielt.
Putin hat vor wenigen Tagen – am 1.000. Tag des von ihm befohlenen Angriffskriegs gegen die Ukraine – eine neue Atomdoktrin unterzeichnet. Warum kommt sie genau zum jetzigen Zeitpunkt?
Frank Sauer: Das kommt darauf, was man unter dem jetzigen Zeitpunkt versteht. Es ist generell geboten, nicht immer gleich direkte Verbindungen zwischen zwei Geschehnissen zu vermuten, nur weil diese zeitlich nahe beieinander liegen. Das beste Beispiel dafür ist der jüngste Telefonanruf von Scholz bei Putin. Nur kurz darauf regnete es erstmals seit langem nicht nur Shahed-Drohnen, sondern auch wieder Marschflugkörper und Raketen auf Kiew. War das Putins Antwort auf Scholz? Nein - denn solche Angriffe haben tage- und wochenlangen Vorlauf. Ähnlich ist es mit Blick auf die Doktrin.
Die Doktrin ist also nicht unbedingt als Reaktion auf den ukrainischen Angriff mit US-Raketen auf ein Munitionsdepot zu verstehen? Lawrow hatte diesen als Eskalation bezeichnet.
Die Überarbeitung der Atomdoktrin läuft schon seit mehreren Monaten. Der grobe Zeitraum der Veröffentlichung stand also sicher schon eine Weile fest. Hat man im Kreml dann nach aktueller Lage den Wochentag angepasst? Möglich.
Die neue Atomdoktrin
Was ist das Neue an der Atomdoktrin?
Die neue Fassung senkt die russische Schwelle zum Gebrauch von Nuklearwaffen - zumindest auf Ebene der Papierlage. Man muss diese Änderungen, erstens, im Lichte der insgesamt angespannten geopolitischen Situation lesen: vor allem den Aufwuchs und die Modernisierung der Arsenale in quasi allen Nuklearwaffenstaaten, verbunden mit der Erosion der nuklearen Rüstungskontrolle.
Was ist damit gemeint?
Der INF-Vertrag ist Geschichte - Moskau hat ihn gebrochen, Washington hat ihn in der ersten Trump-Administration gekündigt. Moskau hat den bilateralen New-Start-Vertrag mit den USA ausgesetzt. Die Duma hat sogar die Ratifizierung des umfassenden nuklearen Teststoppvertrags zurückgenommen - kurz: wenn New Start 2026 offiziell ausgelaufen sein wird, dann sind wir in einem Zustand wie im tiefsten Kalten Krieg vor 60 Jahren.
Die neue Atomdoktrin reagiert darauf?
Sie enthält folgerichtig keinen Hinweis mehr auf Rüstungskontrolle. Außerdem ist der Kontext des Krieges in der Ukraine relevant. So bezieht sich etwa Punkt 11 ganz klar auf die Unterstützerstaaten der Ukraine.
Was steht drin?
Der neue Punkt 11 besagt, dass eine Aggression gegen die Russische Föderation und oder ihre Verbündeten durch einen nicht-nuklearen Staat unter Beteiligung oder Unterstützung eines nuklearen Staates als gemeinsamer Angriff dieser Staaten betrachtet wird. Man könnte das auch die "Ukraine-Klausel" nennen. Denn das beschreibt die Dinge rund um die Ukraine - nur natürlich so verdreht, wie sie der Kreml sieht. Solche Passagen sind neu aufgenommen worden, um Unterstützerstaaten der Ukraine gezielt abzuschrecken. Aber das ist ja ohnehin mit verbalen Drohungen schon zigfach geschehen - und insofern ändert das nicht wirklich etwas an der Situation.
Das Risiko der neuen Doktrin
Wie hoch ist die Schwelle zum Gebrauch von Nuklearwaffen nun?
Nach Papierlage: niedriger. Aber der entscheidende Punkt ist ja in der alten wie der neuen Doktrin der gleiche geblieben - es ist der, der besagt, dass alleine
Man kann daraus also kein konkretes Risiko ableiten?
Es ist nicht möglich, aus dem Text eine belastbare Ableitung zu generieren, wie hoch das Risiko eines Nuklearwaffengebrauchs durch Putin jetzt und zukünftig ist. Man muss also vor allem ihn im Auge behalten, weniger die Doktrin.
Putins rote Linie
Welche Neuerungen sind als Reaktion auf den Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato zu interpretieren?
Punkt 15f spricht davon, dass die Erweiterung bestehender militärischer Koalitionen, die zu einer Annäherung ihrer militärischen Infrastruktur an die Grenzen der Russischen Föderation führen, eine militärische Bedrohung darstellt, die Russland abzuschrecken gedenkt. Gemeint sind natürlich Schweden und Finnland und ihr Beitritt zur Nato.
Punkt 15h spricht von Angriffen auf Einrichtungen in der Russischen Föderation, die zu menschengemachten, ökologischen oder sozialen Katastrophen führen könnten. Was ist damit gemeint?
Das klingt sehr nach dem russisch besetzten AKW in Saporischija, das man laut dieser Klausel besser nicht zu befreien versuchen sollte.
Was wissen wir derzeit über Putins rote Linien?
Putin hat in der Vergangenheit rote Linien gezogen und mit Nuklearwaffen gedroht – und als die roten Linien überschritten wurden, etwa mit der Invasion in Kursk, ist nichts passiert. Am Kern des aktuellen Problems hat sich also nichts geändert. Man muss, Doktrin alt oder neu, Papierlage hin oder her, Putin und vor allem natürlich etwaige Bewegungen im russischen Nuklearapparat genau im Auge behalten. Der Angriff mit einer noch nicht näher identifizierten ballistischen Rakete mit Mehrfachsprengköpfen auf Dnipro ist hier eine interessante Entwicklung und möglicherweise ein bedeutsames Signal. Aber es ist zu früh, das abschließend zu beurteilen.
Wie sollte der Westen auf die neue Doktrin reagieren?
Wie bisher auch, wenn es um nukleare Drohungen des Kremls ging: öffentlich, mit Besonnenheit. An dieser Stelle ist der Begriff ausnahmsweise mal angebracht. Und natürlich mit entschlossenen und abschreckenden Botschaften hinter den Kulissen. So wie es in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Als man Putin von amerikanischer, indischer und chinesischer Seite 2022 hat wissen lassen, dass er es mit den Atomdrohungen nicht übertreiben soll, hat das Wirkung gezeigt. Vielleicht sollten solche Anrufe mal wieder stattfinden, um die Botschaft aufzufrischen.
Über den Gesprächspartner
- PD Dr. Frank Sauer hat Politikwissenschaften, Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt studiert. Er forscht und publiziert zu Fragen der internationalen Politik, insbesondere dem Verhältnis zwischen Technologie und Sicherheit. Besondere Schwerpunkte liegen auf Nuklearwaffen sowie der Nutzung von Robotik und Künstlicher Intelligenz (KI) im Militär.
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