Der Überraschungsvorstoß ukrainischer Truppen auf Kursk hat den Kreml entsetzt. Nicht nur militärisch verändert der Handstreich die Lage. Politisch und psychologisch trifft die Offensive Putin ins Mark – aus zwei historischen Gründen.

Dr. Wolfram Weimer
Eine Kolumne
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Vor zwei Monaten, genau am 6. August, startete die Kursk-Offensive der ukrainischen Streitkräfte. Die Kursk-Nachrichten sind für Wladimir Putin seither ein Desaster: 130.000 Russen sind auf der Flucht, und immer noch ist der Einmarsch der Ukrainer nicht gestoppt. Rund drei Dutzend Ortschaften in der Oblast Kursk sind ukrainisch besetzt. Putins Überfallkrieg ist im eigenen Land angekommen.

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Alle Versuche der russischen Armee, die Ukrainer zurückzudrängen, sind bislang wenig erfolgreich. Derzeit wagen die Kreml-Truppen bei dem Dorf Plechowo einen lokalen Gegenangriff. Doch die ukrainischen Soldaten profitieren ausgerechnet von Verteidigungsanlagen, die Moskau dort vor Monaten errichtet hat.

Am Ende bleibt die Attacke im Abwehrfeuer hängen. "Unsere Soldaten haben den russischen Besatzern und ihrer Ausrüstung eine Lektion erteilt, Dutzende gepanzerter Fahrzeuge verbrannt und das feindliche Personal liquidiert", schrieb der ukrainische Kriegsberichterstatter Jurij Butussow zu einem Video, das Szenen des Gefechts zeigt.

Russland selbst wird zum Schlachtfeld

Militärexperten zweifeln zwar, ob die Kursk-Offensive ein nachhaltiger Befreiungsschlag für die Ukraine sein kann. Die Ukraine riskiere eine Zersplitterung ihrer Verteidigungsressourcen und es drohe trotz des tapferen Widerstands ein langsames, verlustreiches Zurückdrängen über Monate.

Gleichwohl hat der Handstreich erst einmal drei positive Folgen für die Ukraine: eine militärische, eine politische und eine psychologische. Zum einen verändert er die militärische Lage zugunsten der Ukraine. Russland ist nun gezwungen, Truppen und Waffen von der Donbass-Front abzuziehen, wo Putins Truppen gerade die Überhand gewonnen hatten.

Zugleich verschafft sich die Ukraine neue Pufferzonen in Gebieten, von denen aus Russland Angriffe gestartet hat. Vor allem aber wird Russland nun selbst zum Schlachtfeld. Der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Sirski habe "den Krieg auf das Territorium des Aggressors verschoben", sagte Wolodymyr Selenskyj nicht ohne Stolz.

Russland soll zum Frieden gezwungen werden

Zum zweiten gewinnt die Ukraine mit dem Vorstoß nach Russland politischen Spielraum zurück. Mit dem besetzten Territorium gewinnt man plötzlich ein Faustpfand, das bei Friedensverhandlungen wichtig werden kann - etwa um eigene, verlorene Gebiete zurückzutauschen. Man signalisiert zugleich den eigenen Truppen, der ukrainischen Bevölkerung und den westlichen Verbündeten, dass man die Initiative wieder erlange.

Das dürfte die Moral stärken, denn plötzlich dreht die Ukraine das Narrativ eines verlorenen Krieges. Russland soll nach Selenskyjs Darstellung nun zum Frieden gezwungen werden. In einer Ansprache erklärte er: "Wenn Putin so sehr kämpfen will, muss Russland gezwungen werden, Frieden zu schließen."

Putin "tobt vor Wut"

Der dritte Effekt zielt auf Russlands Machtgefüge. Das Husarenstück legt nicht nur russische Schwächen aller Welt offen. Es hat womöglich auch das Zeug, die Lage im Kreml zu destabilisieren. Die Oppositions-Zeitung "Moscow Times" berichtet unter Berufung auf Insider, dass Putin "vor Wut tobt". Die Überraschungsoffensive sei "ein Schock für das russische Militär und den Kreml".

Dass die Ukraine es schaffe, mit Tausenden Soldaten ein Gebiet von 1000 Quadratkilometern zu erobern und russische Truppen gefangen zunehmen, untergrabe die Autorität der Führung in Moskau, die offenbar die Sicherheit der eigenen Bevölkerung nicht mehr gewährleisten könne.

Putin selbst bezeichnet den Vorstoß ukrainischer Truppen als Versuch, die Lage in Russland zu destabilisieren, der Feind wolle "Zwietracht" säen.

"Kursk ist Putins Ende"

Ganz gezielt haben die Ukrainer die Stadt Kursk ins Visier genommen. Denn Kursk ist für Russland ein hochsymbolischer, sensibler Ort. Selenskyj hat mit einem historischen Vergleich die Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg prognostiziert. "Die Kursk-Katastrophe jährt sich zum 24. Mal", sagte Selenskyj mit Blick auf das russische Atom-U-Boot Kursk, das im Jahr 2000, wenige Wochen nach Beginn von Wladimir Putins erster Amtszeit als Präsident, in der Barentssee gesunken war.

"Das war der symbolische Beginn seiner Herrschaft", sagte Selenskyj. Mit Hinweis auf die ukrainische Offensive in der russischen Region Kursk prophezeite Selenskyj, man könne bereits sehen, was Putins Ende sein wird: "Kursk ist Putins Ende. Die Katastrophe seines Krieges".

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Die Wahl von Kursk als Zielort der Offensive trifft zugleich einen noch tiefer sitzenden Nerv Russlands. Denn genau dort, wo nun die ukrainischen Truppen vorrücken, fand 1943 die größte Panzerschlacht der Weltgeschichte statt. Hitlers Wehrmacht wagte einen letzten gewaltigen Angriffsversuch ("Operation Zitadelle"), am Ende der Schlacht hatten 863.000 Russen und 203.000 Deutsche ihre Leben verloren, die Sowjetarmee verlor mehr als 6.000 Panzer und 3.000 Flugzeuge – aber sie gewann.

Es war aus sowjetischer Sicht nach Stalingrad der größte und schmerzlichste Triumph im Zweiten Weltkrieg. Kursk bedeutete den strategischen Wendepunkt im deutsch-sowjetischen Krieg, die Wehrmacht verlor hier endgültig die Initiative. Seit Jahrzehnten gilt daher der Name "Kursk" in Russland als ein Mythos der eigenen Unbesiegbarkeit. Wenn Putin nun ausgerechnet dort Niederlagen beigebracht werden, dann wird sein Nimbus als unumstrittener Autokrat schwer beschädigt.

Selenskyj hat also den Ort der Offensive bewusst gewählt - er trifft Putin damit ins Mark.

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