Korruption, Einfluss von Oligarchen, eine intransparente Justiz: Für Viktor Orban ist die Ukraine noch "Lichtjahre" entfernt von ihrem Ziel, Teil der EU zu werden. Doch wie steht es tatsächlich um den möglichen Beitritt?

Eine Analyse
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Gerade erst hatte es in der Ukraine Jubelrufe gegeben, dann folgte der Dämpfer: Die Europäische Kommission hatte ihre Empfehlung ausgesprochen, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beginnen – doch einer hat etwas dagegen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban blockiert zunächst den Weg in die Europäische Union. Das Land sei noch "Lichtjahre" von einem Beitritt entfernt, sagte er. Doch wie steht es wirklich darum?

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Einer Umfrage zufolge sind sich die Ukrainer einig: Innerhalb der nächsten zehn Jahre sei man der EU bereits beigetreten. Doch realistisch ist das nicht, erklärt Miriam Kosmehl, Senior Expertin für Osteuropa und EU-Nachbarschaft der Bertelsmann Stiftung, auf Anfrage unserer Redaktion.

EU-Beitritt hängt maßgeblich von drei Kriterien ab

"Die Ukraine muss mehrere bedeutende Hürden überwinden, um Vollmitglied der EU zu werden", sagt sie. Dabei gehe es um politische, rechtliche und wirtschaftliche Reformen und Anpassungen an EU-Standards. "Das erfordert politischen Willen und Kapazitäten." Kapazitäten, die während eines aktiven Krieges anderweitig gebunden sind. Dennoch, das konnte man seit Beginn der Invasion Russlands erkennen, bemüht sich die Ukraine umso mehr, Teil der EU zu werden. Antikorruptionsgesetze, Justizreformen, außenpolitische Partnerschaften: Präsident Wolodymyr Selenskyj versucht mit allen Mitteln, den Willen seines Volkes schnellstmöglich umzusetzen.

Doch ob die Hürden so einfach zu überwinden sind, wie vermutlich viele im Land glauben, ist fraglich. Um der Europäischen Union beitreten zu können, muss ein Land die sogenannten Kopenhagen Kriterien erfüllen. Dabei gibt es drei Dimensionen, die erst einmal sehr abstrakt klingen. Das politische, das wirtschaftliche und das Acquis-Kriterium.

Laut Kosmehl definieren die politischen Kriterien, dass ein Land stabile Institutionen besitzen muss, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten gewährleisten. Die wirtschaftlichen Kriterien legen fest, dass ein Land eine funktionierende Marktwirtschaft besitzt und fähig ist, dem Wettbewerb im EU-Binnenmarkt standzuhalten und keine Belastung darstellt. Das Acquis-Kriterium verlangt die Übernahme, Umsetzung und Anwendung des gesamten EU-Besitzstandes – "also von Gesetzen und Standards in Bereichen wie Justiz, Umwelt, Landwirtschaft, Energie, komplexen Politiken wie Wettbewerbspolitik bis hin zu Standards bei der Lebensmittelkontrolle", wie Kosmehl erklärt.

Sieben Schritte für den Weg in die Europäische Union

Um zu verstehen, was die politischen Kriterien bedeuten, nimmt man sich laut der Expertin am besten die sogenannten 'Seven Steps' vor, die die EU-Kommission der Ukraine nahegelegt hat.

  1. Reform des Verfassungsgerichts
    Es soll sichergestellt werden, dass die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts in einem Verfahren bestimmt werden, das ihre Professionalität und Integrität sichert.
  2. Justizreform
    Faire Auswahlverfahren für jene Justizorgane abschließen, die ihrerseits über die Ein- und Abberufung von Richterinnen und Richtern bestimmen.
  3. Korruptionsbekämpfung
    Es müssen Erfolge vorgewiesen werden im Vorgehen gegen bedeutsame Korruptionsfälle. Die EU verlangt Untersuchungen sowie eine glaubwürdige Erfolgsbilanz bei Strafverfolgungen und Verurteilungen
  4. Kampf gegen Geldwäsche
    Die ukrainische Gesetzgebung zur Verhinderung von Geldwäsche sowie der gesamte Sektor Strafverfolgung in diesem Bereich muss grundlegend reformiert werden. Denn dieser ist laut Kosmehl für die Staatssicherheit bedeutsam. Nicht nur Staatsanwaltschaft und Polizei seien davon betroffen, sondern auch Grenzschutz und staatliche Sicherheitsdienste bis hin zum Geheimdienst SBU.
  5. Anti-Oligarchenreform
    Vor allem ist hier das Einhegen von Oligarchen auf die Politik gemeint, denn noch immer nehmen demokratisch nicht legitimierte Personen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich intransparent Einfluss.
  6. Mediengesetz
    Grundsätzlich soll der Einfluss von Einzelinteressen verhindert werden. Dafür soll ein Mediengesetz sorgen, das die ukrainischen Rechtsvorschriften an die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste anpasst und die unabhängige Medienaufsichtsbehörde ermächtigt.
  7. Schutz von nationalen Minderheiten
    Gefordert wird eine Reform des Rechtsrahmens für nationale Minderheiten. Diese wird zurzeit vorbereitet und soll zu einem Abschluss kommen.

Bei den wirtschaftlichen Kriterien geht es Kosmehl zufolge darum, dass ein Land leistungsfähig ist und im Binnenmarkt der EU mithalten kann. Zumindest sollten die wirtschaftlichen Voraussetzungen eine Aussicht auf wirtschaftliche Stabilität und Wachstum bieten. Wichtig ist das deshalb, weil die Kosten eines Beitritts erheblich sind. Ohne finanzielle Unterstützung der EU sei das gar nicht zu bewerkstelligen. Laut der Expertin sind umfangreiche Investitionen in den Umbau der ukrainischen Volkswirtschaft notwendig, um die Binnenmarktregeln zu erfüllen und die Ukraine wettbewerbsfähig zu machen.

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Ursula von der Leyen: "Fast alle Schritte abgeschlossen"

"Insgesamt", sagt Kosmehl, "geht es also um einen umfassenden politischen und wirtschaftlichen Umbau." Positiv stimme jedoch, dass die ukrainische Gesellschaft hinter diesem stehe. Die Frage sei aber, ob die Menschen wüssten, was da auf das Land zukommt. Zwar hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Ukraine in ihrer Rede beim Kyiv Investment Forum am 16. November für ihren Tatendrang gelobt. "Sie haben fast alle Schritte abgeschlossen, um die wir Sie gebeten hatten", sagte sie. Dennoch gibt es noch viel zu tun.

Dass die Ukraine in einigen Bereich gut vorangekommen sei, liege sicher an der Motivation, den Handel weg von Russland auf die EU auszurichten, meint die Expertin. Wichtige Anpassungen im Energiesektor hätten angesichts der russischen Angriffe auf die Energieversorgung bereits im vergangenen Winter stattgefunden. "Gleichwohl hat der Krieg auch Negativeffekte", sagt Kosmehl. "Etwa, weil menschliche Ressourcen, die Reformen vorantreiben könnten, in die Verteidigung fließen – müssen."

Zusätzlich gebe es einflussreiche Kräfte innerhalb der Ukraine – jene, die eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU nicht wollen. "Womit wir wieder bei den 'Seven Steps' wären." Vor allem bei der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung. Diese strukturellen Veränderungen könnten nicht in wenigen Monaten vollzogen werden. "Deshalb wird es darum gehen, den Beitrittsprozess zu nutzen, um die genannten Reformen auch institutionell zu verankern." Doch der ist eben noch nicht eröffnet – und das wird er erst, wenn alle 27 Mitgliedsstaaten zustimmen. Dafür allerdings muss Viktor Orban noch überzeugt werden.

Über die Gesprächspartnerin

  • Miriam Kosmehl arbeitet als Osteuropa-Expertin für die Bertelsmann Stiftung. Bis 2017 war sie Büroleiterin der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Ukraine und Belarus. Davor war sie als Gutachterin und Projektleiterin der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) überwiegend im Bereich Rechts- und Justizreform tätig und war Referentin für Rechtsstaatlichkeit im Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE in Warschau.

Verwendete Quellen

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