Die russische Invasion in der Ukraine hat auch das Leben der Straßenhunde auf den Kopf gestellt. Explosionen und Luftalarme lösen Stress aus und erschweren ihnen den Kampf ums Überleben. Hinzu kommt: Viele Haustiere wurden bei der Flucht ihrer Besitzer zurückgelassen, was die Population der Straßenhunde um ein Vielfaches erhöht hat. Die Geschichte einer Hundemutter und ihren Welpen zeigt, was Streuner in der Ukraine durchmachen, wie brutal die Natur sein kann, aber auch, wie sich das Leben durchbeißen kann.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Joana Rettig . Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ein lauter Knall zerreißt die Stille der Nacht. Fensterscheiben springen aus den Rahmen, die Druckwelle der Rakete schleudert die Glassplitter in die Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer. Holzstücke und Metallteile schießen durch Bäume, durch den Spielplatz, der nur wenige Meter entfernt ist. Hunde bellen und jaulen.

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Menschen rennen aus ihren Häusern, wollen sehen, was getroffen wurde. Kein Haus, kein Geschäft – nur ein Stück Wiese und ein paar Maulbeerbäume. Genau dort prangt der Krater. Rauch steigt auf. Sirenen heulen, Einsatzkräfte rücken an.

Straßenhund zwischen zwei Autos
Der Krieg in der Ukraine hat auch das Leben der Straßenhunde auf den Kopf gestellt. © Joana Rettig

Rund zwei Jahre später. Ein Maulbeerbaum steht in einer Wohnanlage in der Altstadt von Kramatorsk. Den Raketeneinschlag von damals hat er überstanden, bereits im Mai trägt er Hunderte Früchte. Der Krater ist zum Teil geblieben. Die Nachbarschaft entsorgt darin Müll und Grünschnitt.

Tief ist er deshalb nicht mehr, doch er birgt eine Überraschung im Untergrund. Unter Gestrüpp und Abfall fiept und quiekt es. Eine rotbraune Hündin mit halblangen Haaren und großen, spitzen Ohren kriecht aufgeregt aus einem Loch im Krater, fletscht die Zähne, stellt die Nackenhaare auf. Bellt.

Aus Zerstörung wird Zuhause

Genau dort, wo Russlands Rakete damals Schrecken und Terror verbreitete, entsteht heute neues Leben. Hier hat die Hündin für ihre Welpen eine Höhle gebaut, sich den Explosionskrater zunutze gemacht. Aus Zerstörung wurde ein Zuhause.

Ein Straßenhund
Die Krater der Raketen bieten Raum für neues Leben. © Joana Rettig

Ein sieben Jahre alter Junge wartet vor dem Höhleneingang. Die wütende Mutter beeindruckt ihn kein Stück. Ein Soldat aus den USA, der freiwillig für die Ukraine kämpft und in Kramatorsk auf seinen nächsten Einsatz wartet, beobachtet ihn amüsiert. Das Kind will die Welpen streicheln. Und bleibt beharrlich. Der Vater steht am Maulbeerbaum, beobachtet seinen Sohn, erntet Beeren. Wie die meisten Menschen in der Ukraine kommt er gut mit Straßenhunden aus. Man füttert sie, die Kinder spielen mit ihnen, geben ihnen sogar Namen.

Im Vergleich zu anderen Ländern geht es den ukrainischen Straßenhunden den Umständen entsprechend gut. Zumindest werden sie nur in den seltensten Fällen gejagt, getreten oder vergiftet. Dennoch sind die Tiere von Krankheiten und Parasiten befallen. Dass diese den Kleinen in der Raketen-Höhle noch zum Verhängnis werden, weiß zu diesem Zeitpunkt noch keiner.

Noch stehen Vater und Sohn glücklich am Baum. Der Mann zeigt auf den Krater, berichtet von dem Raketeneinschlag vor rund zwei Jahren. Er schiebt sich eine Maulbeere in den Mund und sagt, die Hündin sei kein gewöhnlicher Straßenhund. Elegant sieht sie aus, wie sie vor ihrem Höhleneingang liegt und die Welpen bewacht. Wie sie ihren Kopf hebt, die Ohren aufstellt. Wie das Fell glänzt, wenn die Sonne darauf scheint.

Weil viele Besitzer ihre Tiere bei der Flucht zurückgelassen haben und gleichzeitig nationale Tierschutzkampagnen ausgesetzt wurden, ist die Streuner-Population massiv gestiegen. Der Verdacht liegt nahe, dass es auch dieser Hündin so ergangen ist. In der Nachbarschaft, sagt der Mann, geht man zumindest davon aus. Der Soldat wird der Mutter später den Namen Viktoria geben. Weil sie so majestätisch wirkt.

Eine Straßenhündin mit ihren Jungen.
Eine Hündin mit ihren Jungen. © Joana Rettig

Straßenhunde vermehren sich durch den Krieg

Bereits vor dem Krieg gab es laut der Tierschutzorganisation "Vier Pfoten" rund 200.000 Straßenhunde in der Ukraine. Jetzt sind die Tierheime überfüllt, vor allem in den frontnahen Gebieten sei die Zahl der Hunde in Tierheimen um 60 bis 100 Prozent gestiegen.

Der Vater sagt: "Es waren mal sechs Welpen." Die Hündin habe sie vor zwei oder drei Tagen das erste Mal aus der Höhle gelassen. Sie seien etwa drei Wochen alt, hätten gerade erst die Augen geöffnet. Doch seit gestern sehe man nur noch fünf von ihnen. Fünf Hunde mehr, die die Population der Straßenhunde erhöhen.

Der Junge hat mittlerweile einen der Welpen in die Finger bekommen. Vor dem Höhleneingang tummeln sich drei davon. Wie kleine Würmchen kriechen die Welpen auf dem Boden. Zweige brechen leise unter ihren unbeholfenen Pfoten. Tapsig und wackelig versuchen die Kleinen einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Dabei stürzen sie immer wieder, die Beine noch zu schwach, die Köpfe zu schwer. Die Welpen sehen gänzlich anders aus als Mutter Victoria: schwarz und weiß gefleckt, einer von ihnen hat dunkelbraunes Fell. In ihren Augen setzen sich dutzende Fliegen ab. Sie nehmen keine Notiz davon.

Luftalarm löst bei den Hunden Stress aus

Solange sich die Menschen vor ihrem Höhleneingang aufhalten, verlässt Viktoria das Areal nicht. Sie hechelt, der Blick wandert pausenlos hin und her. Stress. So lange, bis sich die Besucher von ihrem Bau wegbewegen. Erst dann wagt auch sie sich etwas weiter weg. Doch sie hat die Kleinen immer im Blick. Die Anwohner haben ihr und den Welpen Futter dagelassen: eine Plastiktüte, in der breiige Nudeln in der prallen Sonne vor sich hingammeln. Die Welpen stürzen sich darauf.

Viktoria nicht. Sie wechselt im Fünfminutentakt ihre Position. Bleibt in sicherer Entfernung, immer ein Auge auf die Welpen. Bereit, einzugreifen. Plötzlich heult die Sirene. Luftalarm in Kramatorsk. Wie etwa zehn Mal am Tag. Das Horn ist in der ganzen Stadt zu hören, doch hier – im Wohngebiet der Altstadt – ist der Ursprung des Heulens besonders nah. Und besonders dröhnend.

Ein Straßenhund
Die Überlebenschancen der Hundewelpen sinken im Krieg. © Joana Rettig

Viktoria hechelt schneller, beginnt leise zu grummeln, bis es sich in ein Jaulen verwandelt. Ihr Blick wandert zu den Kleinen, die noch immer vor der Höhle kriechen. Als wäre das noch nicht genug, nähert sich ein Eindringling. Der schwarze Schäferhund-Mix des US-amerikanischen Soldaten, der die Hündin besucht und füttert. Der Rüde wirkt interessiert, nicht gefährlich. Doch Viktoria zögert nicht.

Innerhalb kürzester Zeit sprintet sie auf die Gefahr zu. Bellt, während sie immer wieder nach vorn stößt und wieder ein paar Schritte zurück rennt. Im Hintergrund noch immer der Alarm. Ihre Zähne blitzen im grellen Sonnenlicht. Der Schäferhund-Mix wirkt beeindruckt, macht sich rar. Beruhigt humpelt Viktoria zurück zum Höhleneingang und platziert sich etwas erhöht im Gras, geschützt vom Schatten des Maulbeerbaums.

Explosionen aus Tschassiw Jar

Sie muss sich an der rechten Vorderpfote verletzt haben, die leckt sie nun ununterbrochen. Dass sie am nächsten Tag bereits mindestens eines ihrer Kinder verlieren wird, weiß die Hündin noch nicht. Jetzt, in diesem Moment, wiegt sie sich in Sicherheit. Auch wenn aus der nahegelegenen Kleinstadt Tschassiw Jar über den Tag verteilt immer wieder Explosionen zu hören sind. Die Russen versuchen dort derzeit durchzubrechen, doch die Ukrainer halten die Stellungen.

Einen Tag später zur Mittagszeit besucht der Soldat erneut die kleine Familie. Die Sonne knallt auf den Höhleneingang. Wieder Luftalarm, doch Viktoria jault nicht. Vor der Höhle liegt eine Welpin. Ihre Augen, die von schwarzem Fell umkreist werden, stehen hervor. Das Gesicht: skelettartig. Sie bewegt sich schwermütig, kriecht in Richtung Höhle, weint laut auf, schafft es nicht hinein, der Abhang ist zu steil. Und niemand kommt sie holen. Auf ihrem Gesicht sammeln sich die Fliegen.

Etwa fünf Meter vom Eingang des Hundebaus entfernt liegt ein weiterer Welpe: weißer Köper, eingefallenes Gesicht. Keine Regung. Schon von weitem wird klar: Er wird für immer drei Wochen alt bleiben. Seine Augen haben Insekten bereits vollständig ausgehöhlt, aus seinem kleinen Mäulchen kriechen Schmeißfliegen.

Wo ist Hündin Viktoria?

Selbst das Weinen der Welpin vor dem Höhleneingang bleibt von ihr ungehört. Ist ihr etwas zugestoßen? Und wenn ja, was ist mit den anderen Welpen? Ein weiterer Besucher kommt zu der Höhle und versucht einen tieferen Einblick in den Bau zu gewinnen. "Da ist etwas", sagt er. "Ich glaube, das ist die Mutter. Rotes Fell, oder?" Sie bewegt sich nicht. Der Mann besorgt sich einen langen Stock, tippt Viktoria an. Keine Regung. Er pikt fester. Nichts.

Einige Minuten verbringt er mit dem Versuch, die Hundemutter zu wecken und kriecht dabei immer tiefer in die Höhle. Doch sie bewegt sich nicht. Unter ihr kämpfen sich langsam drei Welpen hervor. Nach vorn kommen sie aber nicht.

Der Soldat und der Besucher geraten in Panik. Sollten sie die Höhle aufbrechen, um die Welpen herauszuholen? Was, wenn die Mutter doch nur schläft – dann hätten sie deren Zuhause zerstört. Für nichts.

Knurren sorgt für Entspannung

Plötzlich knurrt es aus der Höhle heraus. Zunächst recht leise, doch offenbar steigern sich Wut, Wachheit und Selbstbewusstsein im Sekundentakt. Entspannung macht sich bei den Männern breit. Selbst als Viktoria aus dem Loch stürmt und in die Offensive geht. Die Welpin vor dem Eingang bleibt von ihr ungesehen. Die Mutter steigt einfach über sie. Die drei Kinder in der Höhle gilt es nun zu verteidigen.

Doch das Hundefutter, das der Besucher dabeihat, lässt die Wut abklingen. Sie frisst aus seiner Hand. Dann macht sie sich auf. Geschäftig geht sie ihren Weg, weiß genau, wohin sie muss. Etwa 200, vielleicht 300 Meter marschiert sie, immer noch humpelnd, dennoch zielstrebig, auf die Häuserblocks zu.

Zwei alte Frauen sitzen auf einer Bank vor dem Hauseingang. Sie kennen die Hündin, wissen aber nichts von ihren Welpen. "Sie kommt hier täglich her", erzählen die Frauen. Dort, in einer Ecke hinter einem alten Holzstamm im Schatten, haben sie ihr drei Schalen mit Wasser bereitgestellt.

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Viktoria trinkt, blickt auf. Wasser tropft von ihrem Maul herab. Auch wenn sie von hier aus den Krater nicht sehen kann: Sie spitzt die Ohren und stiert in Richtung ihres Baus. Etwa eine Minute lang. Dann bewegt sie sich weiter. Zu den Mülltonnen. Nichts zu finden. Sie humpelt weiter. Zwischen einem Kellereingang und einem Rosenbusch gönnt sich Viktoria einen Moment Ruhe, bis sie sich wieder ihrem Job als Mutter widmet.

Zurück im Krater schlüpft sie in die Höhle, die drei fitten Welpen folgen ihr. Die Welpin vor dem Höhleneingang ignoriert Viktoria erneut. Sie bleibt zurück. Wie bei ihren beiden Brüdern, hat auch bei ihr die Natur zugeschlagen. Und Viktoria hat sie aufgegeben. Zum Wohl der anderen. Das aufgeblähte Bäuchlein der Welpin verrät, was sich darin verbirgt: Parasiten, Krankheiten. Der Soldat will sie noch nicht aufgeben, sieht Leben in ihr. Er gibt ihr den Namen Vona – ukrainisch für sie/ihr –, packt sie in seine Tasche. Und geht.

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