• In den sozialen Netzwerken kursiert ein beunruhigendes Video. Ein mit Atomwaffen beladener Zug, der dem 12. Hauptdirektorat des russischen Verteidigungsministeriums zuzuordnen ist, soll von Russland auf dem Weg in die Ukraine sein.
  • Bereitet Putin jetzt konkret einen Atomwaffenschlag vor oder handelt es sich nur um Einschüchterung? Militärexperte Gustav Gressel erklärt, was dahinterstecken könnte und warum das Video nicht zufällig aufgetaucht sein dürfte.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ein Video, das in den sozialen Netzwerken die Runde macht, befeuert die Angst vor einem atomaren Schlag Moskaus. Es zeigt einen Güterzug, vermutlich mit militärischer Spezialausrüstung. Laut der britischen "Times" soll der Zug von Zentralrussland in Richtung Ukraine unterwegs sein und der Nuklear-Abteilung des Verteidigungsministeriums unterstehen. Die Sorge: Bereitet Putin einen konkreten Einsatz von Atomwaffen vor?

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Erst vor wenigen Tagen, am 30. September, hatte Putin bei seiner Rede zur Annexion von vier ukrainischen Gebieten gewarnt, man werde Russland "mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen". Gleichzeitig bringt die ukrainische Armee Russland immer weiter in die Defensive: Die Stadt Lyman ist bereits zurückerobert und auch nahe Cherson soll es bedeutende Geländegewinne geben.

Video kam ursprünglich von pro-russischem Sender

Militärexperte Gustav Gressel bestätigt: "Der Zug auf dem Video ist relativ eindeutig dem 12. Hauptdirektorat des russischen Verteidigungsministeriums zuzuordnen". Es sei zuständig für die Aufbewahrung, Erprobung, Bereitstellung und den Transport von Nuklearwaffen. "Es ist relativ selten, dass man Videos von deren Verlegung zu Gesicht bekommt", sagt der Experte. Für einen Zufall hält er die Veröffentlichung deshalb nicht.

"Es passt zu den impliziten und expliziten Atomwaffendrohungen, um die westliche Öffentlichkeit nervös zu machen", sagt Gressel. Aus seiner Sicht könnte es sich mehr um ein Mittel der Einschüchterung und politischen Kriegsführung handeln als um die wirkliche Vorbereitung eines Atomwaffeneinsatzes. Das Video mit dem fahrenden Militärzug wurde scheinbar zunächst von dem pro-russischen Sender "Rybar" auf Telegram veröffentlicht.

Experte: "Putin will den Westen nervös machen"

"Das könnte einer der vielen Versuche sein, den Westen nervös zu machen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen", schätzt Gressel. Dass Russland kurz davorsteht, Atomwaffen einzusetzen, glaubt er nicht: "Die Russen haben das Instrument der Mobilmachung noch nicht ausgeschöpft". Die ersten einberufenen Einheiten würden erst jetzt in die Ukraine einlaufen. "Solange man dieses Instrument noch nicht ausgereizt hat, glaube ich nicht, dass es zu einem Atomwaffeneinsatz kommt", sagt Gressel.

Die Russen würden auch daraufsetzen, dass im Zuge der amerikanischen Zwischenwahlen, dem Gas-Embargo und den steigenden Energiekosten die westliche Unterstützung für die Ukraine schlechter werde. "Wenn die Russen jetzt Atomwaffen einsetzen, würden sie die westliche Unterstützung für die Ukraine nur noch verstärken. Solange sie ihre Mittel der Druckausübung noch nicht voll ausgeschöpft sehen, wird es keinen Einsatz geben", schätzt Gressel.

Putins Macht ist noch nicht gefährdet

"Putin würde Atomwaffen außerdem nur einsetzen, wenn er das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren über die eigenen Leute und die Stärke, sich innenpolitisch über Wasser halten zu können", meint Gressel. Nicht nur der Kriegsverlauf, sondern auch die innenpolitische Komponente sei ausschlaggebend. "Derzeit ist seine Macht aber noch nicht gefährdet", sagt Gressel.

Der russischen Nuklear-Doktrin zufolge gehe man in den nuklearen Einsatz, wenn die Existenz des russischen Staates gefährdet ist. "Nicht der territoriale Bestand. Das ist ein Unterschied", meint Gressel.

Hinzukomme, dass Russland den Kriegsverlauf durch den Einsatz einer einzigen Atomwaffe nicht maßgeblich beeinflussen könne. "Um den Krieg nuklear zu beenden, müsste man mehrere Atomwaffen einsetzen. Gleichzeitig würde es eine amerikanische Antwort geben", so Gressel. Aus Washington hatte es in jüngster Vergangenheit immer wieder deutliche Warnungen an Moskau gegeben, keine Atomwaffen einzusetzen. US-Präsident Joe Biden selbst soll Kreml-Chef Putin gewarnt haben.

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Manöver könnten kurz bevorstehen

Das zeigt auch: Amerikanische Experten scheinen einen Atomwaffeneinsatz durchaus für realistisch zu halten. "Sie würden nicht zum Hörer greifen, wenn sie keine Befürchtungen hätten", meint auch Gressel. Hier müsse man auf die Informationen aus Washington und die Abschöpfung russischer Kommunikation vertrauen.

Gressel hat eine weitere Erklärung dafür, was das Video des militärischen Güterzugs bedeuten könnte: "Es könnte sich auch um Vorbereitungen für den Test des Poseidon-Torpedos handeln. Dieser hat einen nuklearen Sprengkopf, in dem Torpedo befindet sich ein Mini-Reaktor." Poseidon-Tests seien bereits angekündigt worden. "Im Zuge der Manöver wäre die Verlegung nicht ungewöhnlich", sagt der Experte.

Nato soll Mitgliedstaaten gewarnt haben

Den Transport von Equipment für militärische Übungen halten auch andere Beobachter für plausibel. Üblicherweise halten die russischen Truppen für strategische Raketen Übungen im Herbst ab. Nun könnten auch Übungen zur nuklearen Abschreckung bevorstehen.

Dazu passt die Meldung der britischen Zeitung "Daily Mail", dass die Nato ihre Mitgliedsstaaten gewarnt haben soll, dass das russische Atom-U-Boot "Belgorod" seine Basis im Norden Russlands verlassen hat. Dabei handelt es sich um das weltweit größte Atom-U-Boot. Es ist in der Lage, atomare Poseidon-Torpedos zu transportieren und abzufeuern. Allerdings kann es auch andere Funktionen erfüllen und somit ebenfalls dem Ziel einer Einschüchterung dienen.

Über den Experten: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.

Verwendete Quellen:

  • Daily Mail: Russian nuclear military train is seen on the move in 'possible warning to the West' that Putin is prepared to escalate his Ukraine war
  • Times: Putin orders nuclear military train to Ukraine.
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