- Auf mehreren Veranstaltungen hat Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) dazu aufgerufen, Putin ernst zu nehmen und mit Russland zu kooperieren.
- Man dürfe seine Worte nicht als "Bluff" abtun, ein dauerhafter Friede sei nur "unter Einbeziehung Russlands" möglich.
- Warum warnt die Kanzlerin plötzlich so eindringlich, war es doch eigentlich still um sie geworden? So schätzen drei Merkel-Kenner die Lage ein.
Eigentlich war es zuletzt ruhig um die Altkanzlerin
Der Tenor war dabei immer derselbe: Putin ernst nehmen, seine Worte nicht als "Bluff" abtun und die Beziehungen zu Russland aufrechterhalten. Konkret sagte Merkel, der Angriffskrieg sei eine "tiefgreifende Zäsur" gewesen, "bei der wir alle gut beraten sind, Worte ernst zu nehmen und sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen und sie nicht von vornherein als Bluff einzustufen". Ein dauerhafter Friede sei "nur unter Einbeziehung Russlands" möglich. Auch, wenn es "eines langen Atems bedarf" müsse weiter an einer "gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur unter Beteiligung Russlands" gearbeitet werden.
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Hat Merkel nicht-öffentliche Informationen zu Putin?
Bei vielen Beobachtern blieben diese Sätze hängen. Die Frage, die sich aufdrängte: Sind Merkels Worte eine Warnung, die auf nicht-öffentlichen Informationen basieren? Politikwissenschaftler Michael Koß, der als Merkel-Kenner gilt, hält das für unwahrscheinlich.
"Aus der Merkel-Binnenlogik heraus wäre das nicht plausibel und auch sehr unüblich für sie", sagt er. Merkel sei immer ein rationaler, wenig impulsgetriebener Politiker-Typ gewesen und würde ihrem Nachfolger kaum ins Handwerk pfuschen. "Es wäre schließlich ein klarer Hinweis, was Scholz tun soll, und was nicht. Es hieße: Russland nicht noch weiter zu provozieren, um einen Atomschlag zu vermeiden", erklärt Koß.
Dass ihre Aussagen so gemeint sind, glaubt er allerdings nicht. "Wenn sie über so gute Informationen über Putin verfügt, müsste man fragen: Warum hat sie sie jetzt und warum hat sie sie nicht in ihre Kanzlerschaft einfließen lassen?", führt Koß aus. Es stelle sich auch die Frage, warum Merkel eine solche Warnung über die Medien kommunizieren sollte. "Sie kann mit Scholz jederzeit telefonieren", sagt er.
Experte: "Es geht Merkel wohl um etwas anderes"
Koß vermutet deshalb, dass es Merkel um etwas anderes geht: "Möglicherweise will sie ihr eigenes Erbe geraderücken, nach dem Motto: 'Den Einvernehmens-Kurs, den ich mit Putin jahrelang gefahren bin, der hat schon seine Gründe'", spekuliert der Experte. In diesem Falle hätten ihre Aussagen weniger mit der Tagespolitik zu tun und mehr mit dem Blick auf ihre eigene Kanzlerschaft. "Dieser Blick hat sich radikal verändert", erinnert Koß.
Zwar glaubt auch Philip Plickert, der eine kritische Bilanz der Ära Merkel herausgegeben hat, dass die Altkanzlerin versucht, ihre Politik in der Geschichte gut dastehen zu lassen, bezweifelt aber ebenso wie Koß, ob das mit ihren jüngsten Aussagen wirklich gelingt. Dennoch müsse man ihre Aussagen vor dem Hintergrund ihrer Russland-Politik einordnen. Merkel habe in ihrer Kanzlerschaft viel mit Putin zu tun gehabt und spreche selbst russisch. "Sie hat Putin auch weitgehend richtig eingeschätzt, war jedenfalls immer misstrauisch", meint er.
Merkels Russlandpolitik mitdenken
Dennoch habe sie politische Weichen gestellt, die Deutschland in eine Abhängigkeit gebracht hätten. Bedeutend seien dabei vor allem zwei politische Linien gewesen. "In der Energiepolitik hat Merkels Entscheidung für einen Atomausstieg die Gasabhängigkeit von Russland steigen lassen.
Gleichzeitig stand die Bundeswehr zum Zeitpunkt der russischen Invasion miserabel da und konnte nicht besonders unterstützen – die ursächliche Unterfinanzierung muss sich die Langzeitkanzlerin zurechnen lassen", sagt Plickert. Ihr strahlendes Bild habe gewaltige Kratzer bekommen und ihr Erbe sei ziemlich fatal.
Die jetzigen Aussagen hält Plickert für einigermaßen banal. "Russland bleibt ein riesiges Nachbarland der EU und man muss auch nach dem Krieg irgendeinen Modus finden, mit Russland zusammenzuleben", sagt er. Das seien keine besonders genialen Einsichten.
Experte kritisiert: "Merkel zeigt keine Empathie für die Lage"
Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder, der Merkels Politik seit Jahren beobachtet und analysiert, zeigt sich wenig überrascht von den Warnungen der Altkanzlerin. "Das passt absolut in das Bild, welches ich bislang von Merkels Grundüberlegungen zur Politik Moskaus hatte", sagt er. Sie setzt damit das fort, was sie immer gemacht habe: "Emotionslose Real- und Rationalitätspolitik jenseits aller skeptischen Einschätzungen".
Sie legitimiere ihre eigene Russland-Politik und jetzige Forderung, die Beziehungen zu Russland nicht aufzugeben mit dem Kohl'schen Motto: 'Man muss das Undenkbare denken'. Schroeder erläutert: "Das heißt: Es kann zum Einsatz atomarer Waffen kommen. Dieses Worst-Case-Szenario hätte sie als Kanzlerin so aber nicht öffentlich formuliert, sondern eher beschwichtigt." Die Zitate würden auch zum Merkel-Dogma, die Dinge "vom Ende her zu denken" passen – Russland also irgendwann wieder miteinzubeziehen, was ja wiederum eine Banalität ist.
"Gleichzeitig stellt Merkel aber mit den Aussagen unter Beweis, dass sie für die spezifische, aktuelle Situation keine wirkliche Option einer klaren Unterstützung zugunsten der Ukraine aussprechen will", kritisiert Schroeder. Sie zeige damit auch keine wirklich öffentlich nachvollziehbare Empathie für die Lage, in der sich die Ukraine und die betroffenen Menschen befänden. "Sie scheint nicht einmal gewillt, sich auf die direkte Konfliktlage im Sinne einer politisch notwendigen Parteinahme einzulassen", sagt Schroeder.
"Wasser auf die Mühlen" der Russlandversteher?
Er könnte sich vorstellen, dass die Forderungen "Wasser auf die Mühlen der Russlandversteher" sind. "Es passt ins Bild derjenigen, die Verhandlungen hier und jetzt wollen und ignorieren, mit welcher Brutalität und Klarheit Russland diesen Krieg führt", meint Schroeder. Insofern handele es sich um eine "Banalisierung der russischen Konfliktdramaturgie". "Die Russen setzen schließlich alles daran, die Ukraine auszulöschen und die Nato in eine nicht angemessene Position zu bringen; nämlich in die eines Angriffsbündnisses, obwohl sie ein Verteidigungsbündnis ist", erinnert er.
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Plickert wagt derweil schon den Blick in die Zukunft: "Der neue Kanzler und seine Regierung stolpern auf ähnlichen Pfaden weiter wie Merkel. Die Zeitenwende ist in vielen Bereichen nur Rhetorik geblieben", kritisiert er. Die Bundeswehr sei weiter schlecht aufgestellt und man klammere sich nach wie vor an alten Dogmen fest – etwa in Bezug auf die Atomkraft in der Energiepolitik.
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