• Nach ukrainischen Angaben verzeichnet Russland den weiteren Verlust ranghoher Offiziere. Bei einem Angriff auf ein russisches Hauptquartier soll einer dabei nur knapp dem Tod entgangen sein: Waleri Gerassimow.
  • Der Chef des russischen Generalstabs ist Putins wichtigster Mann in der Armee.
  • Wieso hat er sich überhaupt so nah an die Front gewagt? Militärexperte Gustav Gressel hat einen Verdacht.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Die Nachricht machte schnell international die Runde: Bei einem Angriff auf ein Quartier des russischen Armeestabs in der ostukrainischen Stadt Isjum sollen am Samstag (30. April) mehrere ranghohe Offiziere getötet worden sein. Wie ukrainische Medien zunächst berichteten, soll auch Waleri Gerassimow unter den Verletzten sein. Bestätigt hat sich das bislang allerdings nicht.

Nur so viel steht fest: Der Chef des russischen Generalstabs war vor Ort. Und allein diese Meldung ist bereits von Bedeutung. Denn Gerassimow ist Putins wichtigster Mann im Militär, enger Vertrauter und Chefplaner des russischen Angriffskriegs. Der 66-Jährige verbrachte seine gesamte Laufbahn in der Armee, ist unter Putin der oberste Befehlshaber und befehligte persönlich die Truppen in der Ostukraine.

Die Frage ist also: Warum wagt sich der "General der Generäle" mitten ins Kriegsgebiet? Für Militärexperte Gustav Gressel steht fest: "Der Besuch von Gerassimow in Isjum war äußerst riskant – er hätte auch getroffen werden können." Hätten die Ukrainer ihn erwischt, hätten sie ein riesiges Loch in die russische Führungsstruktur gerissen, sagt der Experte.

Frontbesuche im Krieg nichts Ungewöhnliches

Trotz des Risikos sei ein Besuch durch ranghohe Offiziere nahe der Front aber im Krieg nichts Ungewöhnliches. "Im Zweiten Weltkrieg war beispielsweise Offizier Erwin Rommel auch des Öfteren an der Front zu sehen", so Gressel. Allerdings: "Die russische Funkausstattung ist zum Teil sehr schlecht, sodass oft über Mobiltelefone gesprochen werden muss", sagt Gressel. Weil diese sich in lokale Netze einwählten, könnte der ukrainische Geheimdienst russische Gefechtsstände einfacher aufspüren. Warum Gerassimow das Risiko offenbar dennoch in Kauf nahm, hat aus Sicht von Gressel mehrere Gründe.

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"Er wollte sich sicherlich ein Bild von der Lage machen", sagt der Experte. In der Anfangsphase des Krieges habe großes Chaos in den russischen Streitkräften geherrscht. Der Befehl, schnell möglichst viele Ortschaften in Besitz zu nehmen, scheiterte am Widerstand der Ukrainer. "Das Lagebild war dann erst einmal nicht klar. Generäle informieren sich in solchen Situationen direkt bei Kommandanten, wie die Lage ist", erklärt Gressel.

Bei den russischen Streitkräften habe es auch Veränderungen in der Kommandostruktur gegeben. "Zu Beginn wurden zu viele einzelne Bataillone direkt geführt und die Armeekommandanten waren überlastet", sagt der Experte. Als Reaktion seien neue Offiziere in den Krieg geschickt worden. "Sie haben sich wiederum in einer Situation vorgefunden, mit der sie noch nicht gut vertraut waren", so Gressel. Ein Grund mehr also für Gerassimow, sich selbst einen Überblick zu verschaffen.

Werden Informationen für Moskau geschönt?

Gressel hat aber hat noch eine Vermutung: "Gerassimow soll in Isjum mit mehreren Truppen gesprochen haben. Wenn er mit einfachen Soldaten redet, dürfte er den Verdacht haben, dass zu ihm nach Moskau nicht alle Informationen durchsickern oder sie mit Blick auf Erfolgschancen geschönt werden", sagt er.

Als Chef des Generalstabs sei es für Gerassimow wichtig zu wissen, mit welchen Zeithorizonten er wirklich rechnen müsse. "Sich bei den Streitkräften vor Ort nach der Lage zu erkundigen, sie zu motivieren und zu fragen, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben, ist nichts Ungewöhnliches", meint Gressel.

Die Offensive Russlands im Osten der Ukraine stockt derzeit nach Einschätzung von Beobachtern. Nach US-Angaben wird das russische Militär in Donezk und Luhansk immer wieder zurückgedrängt. "Das durchschnittliche Voranschreiten der russischen Truppen beträgt derzeit etwa 1,5 Kilometer pro Tag", sagt Gressel. Doch die Russen haben ein Problem: Ihnen gehen die Freiwilligen aus. "Panzerbesatzungen sind nicht vollständig, die Flankensicherung ist ausgedünnt", hat auch Gressel beobachtet. Um keine weiteren Verluste zu riskieren, würden die Truppen nur langsam vorrücken.

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"Die Ukrainer weichen dem russischen Artillerie-Feuer aus, bedrohen den Gegner aus der Flanke und verlangsamen die Angriffe der Russen damit weiter", analysiert der Experte weiter. Gleichzeitig falle ein ukrainischer Gegenangriff östlich von Charkiw den Russen in die Flanke, eine Eisenbahnlinie sei bereits eingenommen worden. "Der Angriff wird von kampferfahrenen Einheiten geführt. Sollte es ihnen gelingen, die zweite Eisenbahnlinie auch noch einzunehmen, dann wäre das für Russland ein Problem", sagt Gressel. Denn die Armee sei für die weitere Unterstützung und den Nachschub von Kräften für die Donbass-Offensive auf die Eisenbahnlinie angewiesen.

"Nehmen die Ukrainer sie ein, wäre für die Russen der weitere Verlauf ihrer Donbass-Offensive bedroht", erklärt Gressel. Sie könnte sich noch einmal weiter verlangsamen, wenn nun gegen die Offensive östlich von Charkiw vorgegangen werden müsste. "In der westlichen Perspektive wird immer angenommen, dass Russland schnell einen Sieg braucht – am besten bis zum 9. Mai", sagt Gressel. Das spiele aus russischer Sicht aber eine viel geringere Rolle. "Worauf Russland aus ist: So viel wie möglich an ukrainischen Streitkräften zu zerstören."

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Über den Experten:
Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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