• Offenbar war vielen russischen Soldaten nicht bewusst, dass sie gegen die Ukraine in einen Krieg ziehen müssen.
  • Eine russische Zeitung berichtet von einem 23-Jährigen, der zu einer "Sonderoperation" geschickt wurde. Seit Kriegsbeginn hat seine Mutter nichts mehr von ihm gehört.
  • Auch in Russland versuchen Menschen nun, ins Ausland zu kommen, um sich dem Krieg zu entziehen.

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Am 24. Februar hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen. Am Morgen dieses Tages hat Pavels Mutter zum letzten Mal von ihrem Sohn gehört. Er ist als russischer Zeitsoldat Teil dieses Krieges geworden – und wusste offenbar nicht, was auf ihn zukam.

Die Zeitung "Nowaja Gazeta", eine der wenigen unabhängigen Redaktionen in Russland, berichtet in einem Artikel vom Fall des 23-Jährigen. Den Schilderungen seiner Mutter zufolge leistete Pavel im Osten Russlands seinen einjährigen Wehrdienst ab und wurde kurz vor dem Ende der Zeit "freiwillig-zwanghaft" verpflichtet, einen Vertrag als Zeitsoldat zu unterschreiben.

"Mama, die haben uns in Autos gesteckt"

Anfang des Jahres wurde er erst zurück in den Westen Russlands und dann nach Belarus geschickt – für eine "Sonderoperation", wie es hieß. Da machten zwar bereits Mutmaßungen über einen bevorstehenden Krieg Russlands gegen die Ukraine die Runde. Doch Pavels Mutter tat sie als "westliche Propaganda" ab und glaubte ihnen nicht.

Am Abend des 23. Februar telefonierte sie mit Pavel. "An seinem Zustand erkannte ich, dass alle dort unter Schock, Erschöpfung und Tränen standen", erzählte sie der "Nowaja Gazeta". Den jungen Soldaten wurde gesagt, dass sie nicht abreisen dürften, weil sie sonst als Deserteure gelten würden. "Mama, wir wurden betrogen!", rief ihr Sohn am Telefon.

Am Morgen des 24. Februar rief Pavel ein letztes Mal an. Da seien bereits Flugzeuggeräusche und Schüsse im Hintergrund zu hören gewesen. Er sagte: "Mama, die haben uns in Autos gesteckt, wir fahren ab. Ich liebe dich. Wenn du eine Todesmeldung bekommst, glaube es nicht sofort, überprüfe es unbedingt." Seitdem hat sie nichts mehr von ihrem Sohn gehört.

Ob diese Geschichte stimmt, ist von Deutschland aus nicht zu überprüfen. Die "Nowaja Gazeta" schreibt aber, dass sie die Schreiben und Appelle der Mutter an die russischen Behörden verifiziert habe.

Das Wort "Krieg" darf in Russland nicht verwendet werden

Offenbar ist Pavel kein Einzelfall. "Russische Soldaten, die von Ukrainern festgenommen wurden, berichten immer wieder, dass sie nicht wussten, dass sie die Ukraine bekämpfen", schreibt die ZDF-Journalistin Katrin Eigendorf, die sich derzeit in der Ukraine befindet, auf Twitter.

Dabei kann es sich in manchen Fällen auch um Schutzbehauptungen handeln: Wer von der feindlichen Seite gefangen genommen wird, versucht sich möglicherweise zu schützen, indem er sagt, er habe von nichts gewusst. Auf Twitter kursieren auch Fotos von Listen, auf denen Soldaten dem Einsatz offenbar mit ihrer Unterschrift zugestimmt haben.

Doch Olga Larkina vom Moskauer "Komitee der Soldatenmütter" sagte gegenüber der "tageszeitung", dass viele Soldaten gezwungen worden seien, die Verpflichtung zu unterschreiben. "Sie werden nicht gefragt, manche stellt man einfach in einer Reihe auf und lässt sie unterzeichnen. Da muckt doch keiner auf." Viele Zeitsoldaten stammen aus armen Familien, die auf den Sold dringend angewiesen sind.

Zudem ist fraglich, wie vielen Soldaten bewusst war, dass es sich um einen echten Krieg handelte. Denn dieses Wort darf in Russland nicht verwendet werden. Medien in Russland ist seit vergangener Woche verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie "Angriff", "Invasion" und "Kriegserklärung" zu verwenden. Moskau bezeichnet den Krieg als militärische "Sonderoperation".

Die russische Regierung will zudem die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russischen Streitkräfte mit drastischen Strafen belegen. Das Parlament stimmte am Freitag in Moskau für eine entsprechende Gesetzesänderung. Demnach drohen hohe Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft.

105.000 Euro für jede Familie eines gefallenen Soldaten

Das russische Verteidigungsministerium hatte am Mittwoch erstmals eine Zahl getöteter russischer Soldaten in der Ukraine veröffentlicht: Demnach seien bis zu diesem Zeitpunkt 498 Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die ukrainische Seite spricht dagegen von 9.000 toten russischen Soldaten.

"Ich möchte sagen, dass die militärische Spezialoperation streng nach Zeitplan und nach Plan verläuft", sagte Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am Donnerstag, deren Beginn im Staatsfernsehen gezeigt wurde. Jede Familie eines getöteten Soldaten werde rund 12,4 Millionen Rubel erhalten, sagte Putin weiter – das sind umgerechnet rund 105.000 Euro.

Doch offenbar steigt in der russischen Bevölkerung die Nervosität. Auch dort versuchen Menschen nun, das Land zu verlassen. Demian von Osten, ARD-Korrespondent in Moskau, schrieb am Donnerstag auf Twitter: "Das erste Mal, dass ich es seit Kriegsbeginn schaffe, länger mit russischen Freunden zu telefonieren. Fast alle sind ausgereist, alle sind fassungslos, schockiert, den Tränen nah."

Verwendete Quellen:

  • Nowaja Gazeta: "Mama, ya tebya lyublyu, yesli budet pokhoronka, ne ver' srazu"
  • Twitter-Accounts von Katrin Eigendorf und Demian von Osten
  • taz.de: Soldatenmütter in Russland: Seit drei Wochen Stille
  • Material der Deutschen Presse-Agentur (dpa)
Russland, Protest, Demonstration, Krieg, Ukraine, Wladimir Putin, 2022

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