• Allein die EU hat bereits sechs Maßnahmenpakete gegen Russland verhängt, die Liste der sanktionierten Personen und Unternehmen wird immer länger.
  • Nun gilt Russland erstmals seit über 100 Jahren als zahlungsunfähig.
  • Ein Zeichen, dass die Sanktionen zum Staatsbankrott führen? "Eher nicht“, sagt Sanktionsexperte Christian von Soest und erklärt, warum.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Die Liste der Sanktionen ist inzwischen hunderte Seiten lang: Von eingefrorenen Konten und Einreiseverboten über SWIFT-Ausschluss und Öl-Embargo bis hin zum Stopp des Zertifizierungsverfahrens für Nord Stream 2 und dem Verbot des Sendebetriebs von drei TV-Sendern. Das sind nur einige Beispiele der zahlreichen Sanktionen, die westliche Länder in Folge des russischen Angriffskriegs verhängt haben.

Allein die EU-Staaten haben bislang sechs Sanktionspakete auf den Weg gebracht, und es werden weitere Maßnahmen diskutiert. So steht beispielsweise ein Gas-Embargo noch immer im Raum. Vor wenigen Tagen dann die Meldung: Russland kann ausländische Schulden nicht bezahlen. Damit war es zum ersten Mal seit 1918 mit der Begleichung von Auslandsschulden in Verzug geraten.

Russland ist zahlungsunfähig – aber nicht bankrott

In der Nacht auf Montag (27. Juni) ließ Russland eine Frist zur Zahlung von 100 Millionen Dollar an Zinsen für zwei Staatsanleihen verstreichen. Ein Signal, dass Russland das Geld ausgeht? "Eher nicht", sagt Sanktionsexperte Christian von Soest im Gespräch mit unserer Redaktion. Es handele sich vielmehr um einen technischen Zahlungsausfall, weil eine Überweisung durch die westlichen Sanktionen unmöglich gemacht wurde. "Das heißt aber nicht, dass Russland bankrott ist – ganz im Gegenteil", weiß von Soest.

Russland habe Devisen in Höhe von mindestens 600 Milliarden US-Dollar, etwa die Hälfte davon sei in westlichen Ländern blockiert. "Der russische Staat hat also große Reserven und verdient täglich hunderte Millionen Euro durch den Export von Öl, Gas und Kohle", erinnert der Experte. Problem für Russland aber: Das Geld kommt an, es kann aber international kaum genutzt werden.

Russische Wirtschaft im Notfallmodus

Wie steht es also um die Wirksamkeit der Sanktionen? Das erste Sanktionspaket der EU war bereits Ende Februar verhängt worden, auch Länder wie Japan, Kanada und die Schweiz haben Maßnahmen beschlossen. "Bei der Wirkung der Sanktionen muss man zwei Ebenen unterscheiden: Die politische und die wirtschaftliche", sagt von Soest.

Westliche Staaten wollten mit den wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen Russland vor allem zu einem Kurswechsel bewegen. Das ist offensichtlich noch nicht gelungen. Gleichzeitig erklärt der Experte: "Wir sehen erste Effekte auf die Wirtschaft, aber die russische Regierung und die Zentralbank konnten einen Zusammenbruch der Wirtschaft verhindern." Die russische Wirtschaft laufe im Notfallmodus, der zumindest kurzfristig recht gut funktioniere. Absehbar sei nicht, wie lange Russland diesen Modus durchhalten könne.

Experte: Weitere Sanktionen könnten zeitnah Effekte erzielen

"Besonders hat den Kreml getroffen, dass die Devisen der russischen Zentralbank eingefroren wurden, das kam sicherlich unerwartet", sagt von Soest. Ebenso habe die Abkoppelung zahlreicher Banken vom internationalen Finanzsystem eine starke Wirkung. "Nach wie vor sind aber nicht alle Banken betroffen, die Gazprom Bank bleibt etwa ausgenommen", erinnert von Soest.

Er ist sich sicher, dass weitere Sanktionen sehr zeitnah Effekte zeigen werden: "Die Exportkontrollen, besonders im Bereich der Technologie, treffen Russland hart", weiß der Experte. Es dürften beispielsweise keine Halbleiter, Mikrochips und andere Hochtechnologie nach Russland exportiert werden.

Problematisch wird das für Russland beispielsweise im Flugverkehr. "Drei von vier Passagiermaschinen in Russland sind aus EU-Ländern, den USA oder Kanada", erinnert von Soest. Firmen aus dem Westen dürften aktuell keine Wartung an den Flugzeugen vornehmen und es dürften keine Ersatzteile geliefert werden.

"Es wird für den größten Flächenstaat der Erde ein Problem werden, wenn der Großteil der Maschinen nicht mehr sicher betrieben werden kann", sagt von Soest. Insgesamt sei die Industrieproduktion in Russland, die auf ausländische Elektronikteile angewiesen ist, massiv eingeschränkt. So musste beispielsweise der russische Autobauer Lada seine Produktion bereits einstellen.

Hohe Kosten für den Westen

Auch auf anderen Ebenen hält von Soest die Maßnahmen für wirkungsvoll. Der Experte erklärt: "Sanktionen haben mehrere Funktionen: Sie sind ein Zwangsmittel und treiben so den Preis einer Handlung in die Höhe." Studien zeigten, dass Sanktionen in einem Drittel der Fälle einen Kurswechsel bewirkten. "Außerdem reduzieren Sanktionen den Handlungsspielraum des Gegenübers", sagt der Experte. Das sei in Bezug auf Russland definitiv der Fall.

"Die wirtschaftlichen und finanziellen Schäden sind enorm", ist sich der Experte sicher. Auch, wenn die Sanktionen für den Westen selbst mit hohen Kosten verbunden seien und es durch die Energie-Abhängigkeit ein Erpressungspotenzial gebe, sei Russland insgesamt stärker abhängig vom Westen.

Kein schneller Kurswechsel

Wie russische Medien schon im April berichteten, droht der stärkste Konjunktureinbruch seit 1994, die Inflation könnte auf 20 Prozent steigen. Beim Bruttoinlandsprodukt muss sich Russland laut Rechnungshof auf ein zweistelliges Minus einstellen.

"Trotzdem können wir nicht davon ausgehen, dass sich hohe wirtschaftliche und politische Kosten schnell in einen Kurswechsel übersetzen", schränkt von Soest ein. Die Sanktionen sollten aber auch eine Signalwirkung nach innen und an mögliche Nachahmer entfalten. "Für die Bevölkerung ist hier beispielsweise die Schließung von internationalen Unternehmen wie McDonald's und Ikea sehr sichtbar und fühlbar", sagt von Soest.

Experte: Gas-Embargo ist "wichtig"

Dennoch sieht der Experte Spielraum für weitere Sanktionen, gerade im Energiebereich. "Das geplante Öl-Embargo war ein wichtiger Schritt, weil es am Kern der Kriegsfinanzierung ansetzt", sagt er. Russland baue allerdings seine Verbindungen zu Indien und China aus und exportiere Öl zunehmend in diese Länder.

"Allerdings mit Preisabschlägen", kommentiert von Soest. Russland könne dabei nicht das Gleiche erzielen wie mit einigen der bisherigen Handelspartner. "Der Transport über Schiffe wird außerdem eingeschränkt und erhöht die Transaktionskosten für Russland", ergänzt er.

Ein Gas-Embargo hält er für wichtig, erinnert aber auch: "Sanktionierende müssen die eigenen Kosten im Blick behalten: Sie brauchen den Rückhalt aus der eigenen Bevölkerung." Es sei fatal, wenn der Westen ein solches Embargo wieder unterbrechen müsste, weil es starke Proteste oder wirtschaftliche Probleme gebe.

Aus Sicht des Experten ist deshalb nun eins besonders wichtig: "Die verhängten Maßnahmen müssen umgesetzt werden, es müssen Lücken identifiziert und geschlossen werden", betont er. Es gebe Schritte in diese Richtung, aber bei der Abstimmung der unterschiedlichen Behörden sei noch viel zu tun.

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Über den Experten:
Dr. Christian von Soest ist Leiter des Forschungsschwerpunktes Frieden und Sicherheit am German Institute for Global and Area Studies (GIGA). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen internationale Sanktionen und Interventionen, autoritäre Regime sowie Außen- und Entwicklungspolitik.

Verwendete Quellen:

  • Deutsch-Russische-Außenhandelskammer: Übersicht Sanktionen. Stand 28.06.2022
  • Gespräch mit Dr. Christian von Soest
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