Die Zerstörung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine geht weiter: In der Nacht zum Dienstag (6.) soll eine Sprengung für einen Dammbruch am Kachowka-Staudamm gesorgt haben. Riesige Wassermengen fluten seitdem Ortschaften im Süden der Ukraine. Tausende Menschen müssen evakuiert werden. Moskau und Kiew beschuldigen sich gegenseitig. Steckt Russland dahinter? Militärexperte Gustav Gressel sieht ein eindeutiges Bild.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es sind wieder einmal erschreckende Bilder: Wassermassen strömen durch den Dammbruch am Kachowka-Staudamm in der Region Cherson im Süden der Ukraine.

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Über 20 Ortschaften sollen bereits vollständig geflutet sein, insgesamt besteht Überschwemmungsgefahr für 80. Tausende Menschen warten in gefährdeten Gebieten noch auf Evakuierung. Russische und ukrainische Behörden stellten Züge und Busse, um die Menschen aus gefährdeten Gebieten zu bringen.

Ursache für den Dammbruch soll Berichten zufolge eine Explosion in der Nacht sein. Kiew und Moskau beschuldigen sich gegenseitig, beide Länder forderten eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats.

Gegenseitige Schuldvorwürfe

Während Moskau von "Sabotage" sprach, erklärte das ukrainische Außenministerium: "Wir betrachten die Sprengung des Staudamms durch die Russische Föderation als einen terroristischen Akt gegen kritische ukrainische Infrastrukturen". Russland kontrolliere den Staudamm mit dem Wasserkraftwerk sei über einem Jahr, die Ukraine hätte ihn nicht durch Beschuss von außen zerstören können, so Präsident Selenskyj. Die Zerstörung gleiche dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe.

Der Kachowka-Staudamm wurde in den 1950er-Jahren gebaut. Er war 30 Meter hoch und mehr als drei Kilometer lang. Er staut den Fluss Dnipro kurz vor der Mündung ins Schwarze Meer zum Kachowkaer Stausee auf. Dieser ist so groß, dass er in drei Verwaltungsbezirken liegt:, in Dnipropetrowsk, Saporischschja und Cherson. Das AKW Saporischschja liegt etwa 150 Kilometer entfernt und bezieht Kühlwasser aus dem See.

Experte sieht eindeutiges Bild

Auch, wenn zwischenzeitlich die Theorie kursierte, weder Russland noch die Ukraine seien verantwortlich und der Dammbruch sei von älteren Schäden verursacht worden, machen der Westen und die Ukraine fast übereinstimmend Moskau für die Explosion verantwortlich. So auch Militärexperte Gustav Gressel.

"Das war eine russische Sprengung", ist Gressel überzeugt. Schon im vergangenen Oktober sei vermeldet worden, dass der Staudamm vermint ist. "Er war unter russischer Kontrolle. Meldungen, dass sich die Russen im Vorfeld der Offensive zurückgezogen hätten, haben sich als substanzlos herausgestellt", erinnert er.

Die Ukrainer hätten aufgrund der Verminung auch nicht auf die russisch besetzte Seite herübergehen können. "Sonst wären sie schon früher mit gepanzerten Fahrzeugen herübergefahren, um einen Brückenkopf zu installieren", meint Gressel.

Experte: Sprengung ist militärisch sinnlos

Militärisch war der Angriff aus seiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt sinnlos. "Die Ukraine greift gerade weit östlich an, das ist relativ weit entfernt vom Chersoner Oblast", sagt Gressel. Die Ukraine verfüge nur über geringe amphibische Kapazitäten, um mit Booten den Fluss zu überqueren und Kräfte zu verlagern.

"Aufgrund der geringen amphibischen Kapazitäten könnte die Ukraine einen Angriff über den Fluss nur als Entlastungsangriff durchführen, wenn im Chersoner Oblast schon mit konventionellen Streitkräften gekämpft wird", analysiert Gressel.

Aktuell laufe der ukrainische Angriff erst runter über das Asowsche Meer, dann kämpfe man sich westwärts. "Mit amphibischen Flussübergängen der Ukrainer ist deshalb frühestens erst in einem Monat zu rechnen", meint der Experte.

Folgen noch nicht absehbar

Bis dahin sei der Dnepr aber wieder zurück auf Fließwassergeschwindigkeit. "Das, was Russland mit dieser Stausprengung erreicht hat, dient nur der Zerstörung der Ukraine und der Zerstörung von strategisch wichtiger Infrastruktur", sagt Gressel.

See und Damm würden einen Großteil des ukrainischen Stroms erzeugen. Nach Angaben des Energiebetreibers "Ukrhydroenergo" wurde auch das am Staudamm gelegene Wasserkraftwerk komplett zerstört. "Es ist ein Mammut-Unternehmen, ihn wieder zu reparieren. All diese Kosten bürdet man der Nachkriegs-Ukraine auf", sagt Gressel.

Noch sind die konkreten humanitären, ökologischen und militärischen Folgen des Dammbruchs noch nicht absehbar. Selenskyj sprach bereits von der "größten menschengemachten Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten". In den Dnipro sollen mindestens 150 Tonnen Maschinenöl gelangt sein, 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen.

Steht Putin "blank" da?

Gressel sagt: "Putin kann die Ukraine nicht bekommen, jetzt muss sie kaputtgemacht werden", sagt er.

Andere Experten, darunter beispielsweise Christian Mölling von der "Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik", sehen die Sprengung als Ausdruck davon, dass Russland im Krieg "blank" dasteht.

Zwar werde die Offensive der Ukraine durch den Vorfall verlangsamt und Pläne müssen geändert werden, aber: "Russland ist offensichtlich nicht in der Lage, klassisch militärisch zu eskalieren, da es militärisch ziemlich blank ist", sagt Mölling im Interview mit der "Tagesschau". Einen Wendepunkt bedeute die Sprengung nicht – Russland habe sich höchstens ein wenig Zeit verschafft.

Verwendete Quellen:

  • tagesschau.de: Sprengung des Staudamms: "Militärisch kein Wendepunkt"
  • tagesschau.de: Zehntausende müssen in Sicherheit gebracht werden
Über den Experten:
Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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